Foto: Warten auf die große Gönnerin: Szene aus Gottfried von Einems Dürrenmatt-Oper „Der Besuch der alten Dame“ am Theater an der Wien. © Werner Kmetitsch
Text:Joachim Lange, am 27. März 2018
Keith Warner inszeniert am Theater an der Wien Gottfried von Einems Dürrenmatt-Oper „Der Besuch der alten Dame“
Claire Zachanassian kommt mit dem Zug. Zurück in jenes Güllen, dessen Bewohner vor 45 Jahren die damals Schwangere vertrieben haben. Züge fahren auf der Bühne von David Fielding weit oben über den einzeln aufgestellten Häuserkulissen vorbei und sind eine Freude nicht nur für jeden Modelleisenbahner. Auf dem Bahnhof Güllen, auf dem wichtige Züge längst nicht mehr halten, zieht sie einfach die Notbremse. Weil sie das immer so macht. Sagt sie. Und so extravagant, wie diese Claire inmitten ihres Gefolges und mit einem Panther an der Leine ihres diabolischen Butlers (Mark Milhofer) auftritt und sich benimmt, glaubt man ihr das sofort. Unannehmlichkeiten, die auf diese Weise entstehen, gleicht sie mit Geld aus. Sie kann das, denn sie ist unermesslich reich. In Güllen lässt sie sich von zwei (freigekauften, was sonst) Schwerverbrechern in der mitgebrachten Sänfte (einem Geschenk des französischen Präsidenten, wie sie nicht vergisst, zu erwähnen) herumtragen.
Am Ende wird sie mit dem Zug wieder abfahren. Da bricht die moderne Lok, jetzt in Originalgröße, von hinten durch die nagelneue Wand der Halle, in der die Dorfgesellschaft (spielfreudig: der Arnold Schoenberg Chor) ziemlich überdreht, eine knallbunte Konsumrausch-Party feiert. Da sind längst Alle zur Kenntlichkeit entstellt. Sie feiern ihre Milliarde, die Claire wie versprochen überreicht hat. Denn sie haben geliefert, was sie verlangt hat: den toten Alfred. Der kommt in den mitgebrachten Sarg und wird mit ihr nach Capri ins schon fertige Grabmal reisen. Mit Meerblick.
Claire braucht diese große Show. Und sie kann sie sich leisten. Aber eigentlich sucht sie nach ihrem nicht gelebten Leben an der Seite von Alfred, der damals nicht sie, sondern die etwas vermögendere Mathilde (Cornelia Horak) geheiratet hatte. Um sein Leben als Krämer in Güllen zu verbringen. Dabei waren Alfred und Claire ein Liebespaar. Als sie von ihm schwanger wurde, verleugnete er die Vaterschaft mit Hilfe von zwei bestochenen Zeugen. Sie musste Güllen in Schimpf und Schande verlassen und wurde in Hamburg zur Dirne. Hatte aber Glück, gleich mit ihrem ersten Ehemann, von dem sie nicht nur den Namen behielt. Fortan als superreiche, aber keineswegs lustige, sondern rachsüchtige Witwe mit einer Sammelleidenschaft für neue Ehemänner. Ein halbes Dutzend ist es mittlerweile. Ihr Butler hat – wie Leporello – Fotos von allen bei sich.
Vom Besuch der alten Dame, diesem Geniestreich von Friedrich Dürrenmatt gibt es eine ganze Reihe von kongenialen Verfilmungen. Ingrid Bergmann ließ den untreuen Alfred sogar über- und zur Schande der Anderen in deren Mitte weiterleben. Meistens aber, und so auch in Gottfried von Einems dichter, packender Opernversion aus dem Jahre 1971, zu der Dürrenmatt selbst das Libretto geliefert hat, überlebt Alfred nicht. Das Erschreckende daran ist, dass niemand von den kollektiven Mördern etwas dabei findet. Sie haben sich alle sukzessive und dann gleichsam unumkehrbar kaufen lassen. Wohlstand auf Kredit für ein Menschenopfer.
Keith Warners Inszenierung, mit der das Theater an der Wien seinen Beitrag zum 100. Geburtstag des Komponisten lieferte (die Staatsoper folgte mit „Dantons Tod“), lässt während Claires Stippvisite erst unmerklich, aber dann immer deutlicher nicht nur eine Art exemplarischen Wirtschaftswunder-Wohlstand entstehen, er resümiert – wie nebenbei – über die Ausstattung die ganze Nachkriegsepoche bis heran an unsere Gegenwart. Dabei folgt er der aufgeladen, dräuenden Spannung der überraschend frisch und nach wie vor theaterwirksam daherkommenden Musik, für die Michael Boder am Pult des ORF-Radio-Symphonieorchesters Wien sich vehement und mit Übersicht einsetzt. Inklusive der bewusst „falschen“ Töne, die das Idyll entlarven. Alles jenseits einer dezidiert „modernen“ Ambition, aber direkt eingängig. Dabei achtet er allemal auf die melodischen Zwischentöne, vor allem die der Erinnerung. Er entfesselt aber auch das rhythmische Stampfen der Gier, bis es die dünne Schicht der abendländischen Moral zerreißt, von der der Bürgermeister (Raymond Very), der Pfarrer (Markus Butter) und Lehrer (Adrian Eröd) so sonntäglich reden. Ausgerechnet der Lehrer liefert zynisch und wortgewandt für alle den moralischen Überbau zum Verrat. Er behauptet, dass es ihnen nicht ums Geld ginge, wenn sie Alfred opfern, sondern darum, einstiges Unrecht zu sühnen. Dass sie alle daran beteiligt waren, unterschlägt er. Und keiner fragt nach.
Katarina Karnéus als alte Dame, für deren Kostüme sich die Ausstattung selbst übertroffen hat, und die ihrem Auftritt durch die imaginierte Bein- und Handprothese zusätzliche Absurdität verleiht, imponiert als Claire. Stimmlich ist sei eine Verwandte von Salome oder Penthesilea. (Den Maßstab für alle folgenden Claire Zachanassians gab übrigens bei der Wiener Uraufführung 1971 die gerade 90 gewordene Christa Ludwig vor…) Russell Braun ist ein wohltönender Alfred, dessen anfängliche Selbstgerechtigkeit bald durch die aufsteigende Angst vor der „Meute“ vertrieben wird. Der dann aber erhobenen Hauptes in jene Kabine geht, in der er sich selbst mit den bereitgelegten Messern umbringt. Um doch moralisch in seiner Selbsterkenntnis und -überwindung zu triumphieren.
Warner, Boder und dem Protagonistenensemble ist damit ein hochspannender, beeindruckender Opernabend gelungen.