Foto: Szene aus der "Zauberin" in Erfurt. © Lutz Edelhoff
Text:Joachim Lange, am 4. Juni 2012
Dass eine Ausgrabung schief gehen kann, hat man in Erfurt gerade bei E.T.A Hofmanns „Trank der Unsterblichkeit“ erlebt, bei dem die Unsterblichkeit wirklich nur im Titel vorkommt. Wie so etwas aber auch beeindruckend gut gehen kann, beweist jetzt die mit der Flämischen Oper Antwerpen/Gent koproduzierte „Zauberin“ von Peter Tschaikowsky aus dem Jahre 1887. Es gehört zu den Kapriolen der Rezeptionsgeschichte, dass ausgerechnet diese großformatige, dramatische Vollblutoper, die zwischen „Mazeppa“ und „Pique Dame“ entstand, in irgendeiner Ecke vergessen wurde. Und das, obwohl der Komponist selbst sie für sein bestes Werk hielt.
Die Geschichte verbindet ein Love- und Eifersuchts- Story auf Leben und Tod mit einem Sittengemälde der Zeit. So wie die hochtalentierte Regisseurin Tatjana Gürbaca das inszeniert hat, erweist es sich als eine erstaunlich ergiebige Vorlage, um etwas über politische Ränkespiele der Mächtigen da Oben und den zwischen Opportunismus und Auflehnung changierenden Geist des murrenden Volkes da Unten zu erzählen. Die attraktive, selbstbewusste Nastasja (wohl eine entfernte russische Verwandte von Carmen) bezaubert mit ihrer offenherzigen, freundlichen Art vor allem die Männer ihrer Umgebung. So, wie die das als Aufforderung für Abenteuer missverstehen, so sehr ist sie den Mächten der Ordnung und den betreffenden Ehefrauen ein Dorn im Auge. Bei der der Fürstin, deren Mann sich bei einer Inspektion in Nastasja verliebt hat, lässt das nicht nur alle Alarmglocken schrillen, sondern sie schreitet zur Tat. Sie versucht erst ihren Sohn zum Mord an der vermeintlichen Rivalin aufzustacheln, und schreitet, als der sich in Nastasja verliebt, selbst zur Tat.
Gürbaca liefert in jeweils separaten, für sich stehenden Räumen (Bühne: Klaus Grünberg) zunächst einen faszinierenden Mix aus Sittengemälde und Kammerspiel. Die Kostüm-Collage (Marc Weeger und Silke Willrett) spielt dabei bewusst mit russischen, sowjetischen, und postsowjetischen Versatzstücken. Das Katzbuckeln vor den Mächtigen und deren Arroganz, die Liebe zur Flasche und zur Kalaschnikow im eigenen Hause, das Über-die-Stränge-Schlagen und die Hoffnung auf den guten Prinzen. Es ist alles da, ohne aufdringlich zu wirken. Und wenn die Geschichte zum Ende hin auch musikalisch in den puren Wahnsinn abdriftet, serviert Gürbaca alles als eine Art Varietee Nummer des Satans. Mit einer zersägten Jungfrau, singenden Köpfen unter der Servierglocke und Akrobaten zur Garnierung.
Tschaikowskys Musik ist auf Operthriller programmiert. Melodisch und mit Futter für den großen Chor, manchmal mit einem rhetorischen Tonfall wie im Onegin. Dann wieder volksopernhaft wie seine großen russischen Ahnen. Aber auch kühn und geradezu experimentell. Unter Leitung von Johannes Pell macht sich nicht nur das Philharmonische Orchester Erfurt mit spürbarer Lust auf den Weg zu dieser ungewohnten Russlandexkursion. Auch die Protagonisten überzeugen. Vor allem Ilja Papandreou als Nastasja und Olga Savova, die als Fürstin von der coolen Managerin der Macht, erst zur betrogenen und von ihrem Mann sogar geschlagenen Ehefrau und dann zur Rachefurie wird. Das ist von den beiden zentralen Frauenfiguren grandios gesungen und gespielt. Juri Batukov ist ein ziemlich lebensnaher Funktionärsfürst, dem man den Mächtigen ebenso abnimmt wie sein Doppelleben. Markus Petsch als des Volkes Hoffnungsträger, Prinz Juri, hat es da schon schwerer. Er geht aber bis an die Grenzen seiner stimmlichen Möglichkeiten, während Vazgen Ghazaryan nach Herzenslust den schleimigen Minister raushängen lässt. Wenn der bei der Inspektion der angeblich so verruchten Zauberhöhle der Nastasja vom Fürsten gezwungen wird, vor aller Augen zu tanzen, dann erinnert das an ähnliche Geschichten, die von Stalins Abendgesellschaften überliefert sind. Mit der Ausgrabung dieses Vierakters ist der Oper Erfurt jedenfalls der Dienst an der Gattung gelungen, der dort zum Programm gehört.