Foto: Szene aus Ludger Engels’ Uraufführungs-Inszenierung von Xavier Dayers Musiktheater „Alzheim“. Vorn: Robin Adams und Joey Zimmermann; im Hintergrund: Heidi Maria Glössner, Marielle Murphy, Evgenia Grekova, Claude Eichenberger, Jürg Wisbach. © Philipp Zinniker
Text:Tobias Gerosa, am 1. Dezember 2017
In Thailand, in tropischer Wärme, werden westliche, vor allem Schweizer Alzheimer-Patienten gepflegt, weit weg, aber nicht nur an Kilometern. Der Schweizer Martin Woodtli hat hier die Demenz-Station Baan Kamlangchay aufgebaut. Für den Journalisten Jürgen Berger waren die Begegnungen dort so eindrücklich, dass er daraus keine Reportage, sondern einen Theatertext schrieb, der in verdichteter, kristallisierender Form die Schicksale von acht Figuren und eine Pflegerin – drei Sängerinnen, ein Sänger, zwei Schauspielerinnen, drei Schauspieler – in einer losen Folge mehr hinstellt als erzählt.
Buddha (Robin Adams) ist ganz in seinem Tennisspiel versunken, aus dem ihn nur die Pflegerin herausholt. Der Brabbler (Joey Zimmermann) – nun ja, brabbelt vor sich hin, gerade noch erkennbar Baseldeutsch. Margret verbringt ihren Tag damit, Socken zu verteilen und anzuziehen, während Lisa ihre Puppe für ihr Kind hält. Aber was machen Gustl und Magda, Mariann und Meinhard hier?
Überhaupt scheint vieles sehr normal in der Vidmar-Halle, der zweiten Spielstätte von Stephan Märkis Konzert Theater Bern. Rechts von der Spielfläche ist das 13köpfige Ensemble aus dem Berner Symphonieorchester mit ihrem Dirigenten Jochem Hochstenbach platziert, ein paar Stühle stehen herum. Nur Hängekörbe mit Pflanzen und ein kleiner Opfertempel deuten auf Thailand als Spielort. Ric Schachtebecks Bühne könnte ein anderes Woanders sein. Wichtiger als das äußere ist in diesem Stück aber das innere Woanders der Patienten.
Eine Oper zum Thema Demenz steht vor der Frage, aus welcher Perspektive sie erzählen will. Die einfachere ist die der Angehörigen. Sie kommt in der Uraufführung von Berger und dem aus Genf stammenden und in Bern lehrenden Komponisten Xavier Dayer (der das Glück hat, an zwei Abenden hintereinander Opern uraufführen zu können: Am Tag nach der Berner Premiere bringt das Opernhaus Zürich sein „Traum von dir“ heraus) auch vor. Schauspielerin Grazia Pergoletti (Mariann) zeigt die Ratlosigkeit, während Mezzosopran Claude Eichenberger (Magda) mehr Verzweiflung und Auflehnung spüren lässt. Die Hauptperspektive in Ludger Engels‘ feiner und sehr genauer Inszenierung, aber noch mehr in Dayers Musik, liegt bei den direkt Betroffenen.
So absurd gewisse Handlungen werden – Schuhe im Kühlschrank abstellen, den Anzug verschnippeln -, nie bekommt man das Gefühl, dass die Betroffenen vorgeführt werden. Sie leben in ihrer Welt, von der wir nur eine Außensicht haben: Ganz woanders, wie der Text mehrfach heraushebt. Wie genau die Inszenierung kleine Stereotypien setzt, wie konsequent die stets präsenten Darsteller ihre Figuren auch scheinbar unbeschäftigt im Hintergrund durchhalten, ist bezwingend: In Marcus Calvins Gesicht, wenn er merkt, wie er immer weniger behalten kann, in Jürg Wisbachs Haltung und Überspielversuchen.
Dabei stellten sie sich am Anfang alle außerhalb ihrer Figur vor: „Ich heisse Heidi Maria Glössner und spiele die Lisa“ oder „Grüezi, ich bi d’Grazia Pergotti und spile d’Mariann.“ Nicht um Illusion soll es also gehen, sondern um den Versuch, etwas spürbar zu machen, das unerklärbar bleibt, indem man es klar als Spiel deklariert – was besser gelingt als der eher angestrengte Versuch, Bühnen- und Schweizerdeutsch zu mischen oder das ständige Umziehen der Figuren (Alltagskostüme: Romy Springsguth).
Es gelingt auch, dank und durch die Musik – vielleicht gerade, weil sie beim ersten Mal hören bei der Uraufführung sich nicht im Gehör festsetzt, sondern man sich immer wieder zwingen muss, sie nicht nur als Begleitung mitzuhören. Der Komponist beschreibt im Programmheft, dass er eine Musik will, die wirkt wie Wasser, in dem man zu ertrinken droht. Bedrohlich klingt das kaum, aber oft verschwommen, wie ein Blick in bewegtes Wasser: Da ist etwas, aber es ist nicht scharf zu erkennen. Daraus wachsen Linien wie das elegische Geigensolo am Anfang, der verklingende Schluss oder – als ein Höhepunkt – das Duett zwischen erster Violine und dem Klavier, wo Engels die Musiker auf die Bühne holt und sie in den Patienten etwas auslösen lässt – ganz fein, wie alles an diesem zwar 50 Szenen, aber nur 80 Minuten langen, intensiven Abend. Ob die Musik mit anderen Inszenierungen bestehen kann, muss sich zeigen. Als Musiktheater/Théâtre musical funktioniert die Berner Uraufführung jedoch sehr gut und eindringlich.