Foto: Die Liebenden (Dietrich Henschel, Franziska Ciofi) und ihre dunklen „inneren Stimmen“ (Nora Frenkel, Terry Wey). © Michael Trippel
Text:Detlef Brandenburg, am 16. November 2019
Unter den in Deutschland wahrgenommenen Komponistinnen und Komponisten der Gegenwart ist die 1957 in Haifa geborene, inzwischen in den USA, Deutschland und Japan lebende und arbeitende Chaya Czernowin die Tiefenforscherin der Traumata – jener inneren Verletzungen, die die Menschen aus den äußeren Katastrophen dieser Welt davontragen. Ob Holocaust („Pnima“, 2000), der Clash of Cultures („Zaïde/Adama“, 2005) oder der Krieg („Infinite Now“, 2017): Fast immer sucht diese eigenwillige, jede konventionelle Dramaturgie und Melodie negierende Klangkünstlerin den Schrecken nicht in den Erzählungen von historischen oder biographischen Ereignissen, sondern in deren Auswirkungen auf die menschliche Psyche. Ihre Musiktheater-Werke sind klingende Schreckenskammern der versehrten Seelen. Mit ihrer neusten Oper „Heart Chamber“ aber, die nun in der Regie von Claus Guth an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt wurde, wendet sie sich einem für sie ungewöhnlichen, in der Opernliteratur freilich allgegenwärtigen Thema zu: der Liebe. Und wohin führt ihre Beschäftigung mit diesem Thema? Natürlich: in eine Schreckenskammer der versehrten Seelen.
„Pnima“ war ein faszinierender Klang- und Geräuschkosmos, dessen verstörende Intensität die beiden folgenden Werke nicht mehr erreichten. „Heart Chamber“ aber kehrt nun zurück zu dieser auratischen Wirkung, aber ohne sie einfach zu wiederholen. Es erreicht vielmehr eine neue Stufe. Auch hier gibt es nur wenig erkennbares thematisches Material – hier eine fast putzig wirkende Zeitraffer-Dreiklangsfigur, dort ein zart durchklingendes Monterverdi(?)-Zitat –, sondern vor allem Klanggebilde im Grenzbereich zwischen Musik und Geräusch, crescendierend, glissandierend, gerührt und geschüttelt. Vier Solosänger, eine Vokalartistin, ein solistischer Kontrabass, ein 16-köpfiges Vokalensemble sowie das Ensemble Nikel (Percussion, E-Gitarre, Klavier, Saxophon) und das Orchester der Deutschen Oper Berlin entfachen ein Hauchen, Rauschen, Raunen Ziepen, Surren, Schwirren, Dröhnen, das aber doch nie zum diffusen Soundscape verschwimmt, sondern immer gestalthaft wahrnehmbar bleibt.
Diese Komponistin hat ein unfassbar feines Gefühl dafür, was sie machen muss, damit das Hören gefesselt und die Spannung erhalten wird. Was zum einen darin seine Ursache hat, dass ihre Klänge die typische synthetische Glätte der „Elektronik“ verschmähen; sie haben immer eine materielle Basis und können einen daher geradezu körperlich berühren (in der Partitur notiert Czernowin zu mehreren Abschnitten Hinweise auf das Autonomous Sensory Meridian Response -Verfahren). Und zum anderen sieht und hört man dieser Musik jederzeit an, dass sie dramaturgisch klar gegliedert ist. Das ist genuine Theatermusik. Aber man hört nur schwer eine wahrnehmbare kompositorische Struktur. Der Klang scheint sich wie aus sich selbst, aus seinen materiellen Gesetzen heraus, zu generieren. Und die Live-Elektronik-Zauberer vom SWR-Studio formen dieses Material zu einem räumlichen Erlebnis, das einem den Atem verschlägt. Instrumente erklingen von Orten, wo nie und nimmer Instrumente sein können; Stimmen kommen aus Richtungen, wo kein Sänger je war. Wer was singt und wo die Grenze zwischen instrumentalem und vokalem Klang verläuft – oft ahnt man es kaum. Allein das Klangerlebnis dieses Abends ist ein Ereignis.
Eine Lovestory gibt es nur rudimentär, in vage angedeuteten Situationen: „Sie“ und „Er“ begegnen sich auf der Treppe eines modernen Gebäudekomplexes, ihr fällt etwas Zerbrechliches herunter, er hebt es ihr auf, daraus entspinnt sich Liebe. Oder was Czernowin, die die Texte selbst geschrieben hat, so Liebe nennt. Denn das eigentliche Geschehen ist ein Inneres, es verbleibt letztlich in der Einsamkeit der durch die Liebe tief verunsicherten Seelen. Frau und Mann versenken sich vokal ins Nachempfinden ihres innersten Außer-sich-seins, das mit der Liebe einhergeht, als „innere Stimmen“ sind ihnen eine Kontra-Altistin und ein Countertenor zur Seite gestellt, der ganze Klangraum wird ihr seelischer Resonanzboden. So vage die Situationen bleiben, so klanglich konkret werden Ängste und Verletzungen, die mit der Liebe einhergehen: die Abscheu vor konventionellen Bindungen; die Angst vor dem Verlust des Geliebten; die Zweifel, ob die Liebe erwidert wird; die Furcht vor Enttäuschung – bei Czernowin ist auch die Liebe vor allem eine verzweifelt schwere seelische Erschütterung.
Der Regisseur Claus Guth erweist sich, wie schon bei „Pnima“, so auch hier als kongenialer Übersetzer des musikalisch Vagen ins szenisch Greifbare. Wieder einmal hat ihm Christian Schmidt eine jener Bühnenarchitekturen auf die Drehbühne gebaut, die eine Außenwelt so abstrakt abbilden, dass es auch eine Innenwelt sein könnte: ein alltäglich-modernes Gebäude, das immer wieder von den hochatmosphärischen Videos von rocafilm überlagert wird, die mit Schmidts Bühne und Guths zeitlupenhaft choreographierter Personenregie hervorragend interagieren. Die Figuren tragen heutige, unauffällig-dezente Massenversand-Fashion. Und gegen Ende, da, wo die Oper tatsächlich ein bisschen auf der Stelle tritt, da gelingt der Regie ein schöner selbstreferentieller Coup, weil der Abend bereits bekannte Abläufe wiederholt, sequenziert und umkehrt. Er spielt mit seinem eigenen szenischen Material und macht so das Typologische der Vorgänge spürbar.
Die musikalische Realisation ist atemberaubend gut. Als „Sie“ macht Patrizia Ciofi mit wunderschön klarer Stimme streckenweise der grandiosen Vokalartistin Frauke Aulbert Konkurrenz; Dietrich Henschel gibt „Ihm“ sonore Seriosität und hat auch in den Videos große Präsenz; Nora Frenkel und Terry Wey sind als „innere Stimmen“ angemessen artifiziell; der Kontrabassist Uli Fussenegger spielt zu Beginn ein furios erregtes Solo. Johannes Kalitzke formt die vielschichtigen Klanggebilde zu einem überwältigenden räumlichen Erlebnis. Und dann, ganz am Ende, dann kommen sie doch noch, die drei notorischen Worte. Aber da ist bereits alles zu spät, man glaubt längst nicht mehr dran – und ertappt sich unversehens bei einer völlig unpassenden Erinnerung an einen Sinatra-Schlager: „And than I go and spoil it all by saying something stupid like ,I love you‘.“ Tja…