Foto: Bereits in verschiedenen Welten unterwegs: Elisabeth (Kristin Göpfert) vorne, im Hintergrund das Ensemble © Patrick Pfeiffer
Text:Eckehard Uhlig, am 7. April 2019
Esslingen ist ein schmuck herausgeputztes schwäbisches Städtchen mit großer Reichsstadtvergangenheit, die in imposanter Architektur sichtbar wird. Das Theater, die Württembergische Landesbühne, ist modern und in seinen Ausmaßen intim überschaubar zugleich. Ein idealer Aufführungsort für kleine Schauspiel-Formate, die uns heute noch etwas zu sagen haben – auch für Ödön von Horváths (und Lukas Kristls) „Glaube Liebe Hoffnung“, den „kleinen Totentanz in fünf Bildern“. Was man aus dem Volksstück der frühen 1930er Jahre, das am Wiener Burgtheater Triumphe feierte, im Esslinger Rahmen machen kann, zeigt Alexander Müller-Elmaus anderthalbstündige Neu-Inszenierung.
Elisabeth, die arbeitslose junge Frau, in der sich alle Leiden des Wirtschaftskrisen-Prekariats spiegeln – kafkaeske Strukturen der Sozial- und Arbeitsämter, Obdachlosigkeit sowie Ausbeutung durch Kleinkapitalisten und Paragraphen-Willkür der Polizeibehörden – geht schlussendlich ins Wasser, weil sie „nichts mehr zum Fressen“ hat. Zwar borgt sie sich zuvor im Anatomischen Institut, dem sie ihren Körper, ihren einzigen Besitz, im Vorverkauf (für künftige Leichen-Fledderei) anbietet, hundertfünfzig Mark, angeblich für einen Wandergewerbeschein. Sie bezahlt damit aber die Geldstrafe, die ihr wegen ambulanten Handels mit Korsett-Waren (ohne dieses Dokument) aufgebrummt wurde. Als der Betrug auffliegt, muss Elisabeth 14 Tage im Knast einsitzen. Dem Schupo Alfons, der sie liebt und aushält, verschweigt sie ihre justiziablen Fehltritte. Nachdem ein Kriminaler seinen Polizeikollegen höhnisch über Elisabeths Vorleben aufgeklärt hat, fühlt der sich betrogen und verlässt aus Angst vor einem Karriereknick seine Geliebte. Ihr bleibt als einziger Ausweg der Suizid.
Mit entrückten Gesichtszügen und überzeugender Empathie spielt Kristin Göpfert eine Elisabeth, die sich unglaublich zäh an allerhand Hoffnungs-Strohhalme klammert. Doch die Kleinmädchen-Frau im sinnfällig grünen Kleidchen (Kostüme: Katrin Busching) ist Opfer in allen Lebenslagen. Der sich gutmütig gebende Instituts-Präparator (Ulf Deutscher), der ihr zunächst mit Geld aushilft und an der Bühnenrampe verträumt imaginäre Tauben mit Körnerfutter, das er in Luftnummern um sich wirft, füttert, meldet sie bei den Behörden. Noch bösartiger agiert der schlurfende und verklemmte Oberpräparator (Antonio Lallo). Kleinunternehmerin Prantl (Stephanie Biesolt) macht die Straßenverkäuferin Elisabeth zudem wegen zu geringer Umsatzzahlen fertig. Und die mit ihr befreundete Maria (Sofie Alice Miller), die als Gelegenheitsnutte den Baron (Florian Stamm) abzockt und ihr Röckchen neckisch zu heben versteht, um ab und an eine der zwischen Schenkel und Strumpfband klemmenden Zigaretten hervorzuziehen, kann mit ihrem speziellen Gewerbe auch nicht beglücken. Immerhin lässt Elisabeths Glaube an ihre Liebe zum Schupo Alfons, den Ralph Hönicke als unbeholfenen und egoistischen Liebhaber gibt, Glücksmomente aufflackern. Umso größer ihr Entsetzen, als sie von ihm, der sich bald als verdruckt spießiger Kleinbürger outet, vergeblich Beistand einfordert.
Den intensivsten Eindruck hinterlässt die Esslinger Inszenierung in ihrer streckenweise sachlich trockenen Präsentation, die von schlagartig unerwartet eingefügten Aktionen (wie den Schüssen auf einer fernen, unfriedlichen Demonstration) gegliedert und unterbrochen werden. Hinzu kommt der passende, originelle Umgang mit der Sprache. Ein durchsichtiger Plastikvorhang trennt den Rampenbereich, wo individuelle Katastrophen schier lautlos stattfinden, von der größeren Hinterbühne, die eine Goldflitter-Rückwand mit schmalem Silberstreifen begrenzt. Hier geht es zumeist turbulent zu.
Das Finale wird von (Elisabeths?) Klagegesängen eingeleitet, die sich zu einem anschwellenden Chor von geradezu religiöser Inbrunst steigern (Musik: Fabian Kalker). Danach vergnügt sich hinter besagtem Vorhang eine besoffene, karnevalesk verkleidete Party-Gesellschaft. Man feiert die Beförderung des neuen Oberpräparators. Vorn an der Rampe liegt indes die aus dem Wasser gezogene, aber nicht nur seelisch bereits tödlich verletzte Elisabeth, die sich noch einmal in ihrer Agonie aufbäumt und windet.
Kritiker behaupten immer wieder, Horváths Sprachdiktion sei von eigenartiger Künstlichkeit. Die Mimen in Esslingen zeigen, dass es sich um einfache, realistisch-derbe, auch von einfältigen Spruchweisheiten durchsetzte Volkssprache handelt. Man spricht meist betont breit artikulierend und zeitlupenhaft frontal zum Publikum. Die Zuhörer, von denen anfangs manche über komisch verkrampfte Textstellen und Handlungen lachen, werden am Ende ganz still. Und Alfons, der jetzt in charakteristisch ichbezogener Weise ein wenig um seine einstige Braut trauert, sagt ganz leise: „Ich habe kein Glück.“ Und ein anderer meint mit letzten, in die gleichgültige Alltagsgesellschaft hinein gesprochenen Worten: „Es regnet noch immer.“ Das sind die in ihrer Banalität eindringlichen Augenblicke einer unerhört wirkungsmächtigen Darstellung, die auch deutlich macht, wohin Männer, die sich keiner Schuld bewusst sind, Frauen (hier die eine Frau, Elisabeth) treiben können.