Foto: Szene mit Henry Braun © Tobias Metz
Text:Manfred Jahnke, am 18. November 2016
„Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann gehört zu den mehrdeutigsten romantischen Doppelgängergeschichten, in denen Wirklichkeit und Fiktion im Wahn ununterscheidbar verschwimmen. In der engen Verwobenheit der Motive „Augen“, „Feuer“ und des „Doppelgängers“ Coppelius/Coppola erhält die Geschichte von Nathanael ein nicht zu greifendes Geheimnis. Auf der anderen Seite greifen Kindheitstraumata schicksalhaft in sein Leben ein, zumal er es trotz der Liebe der Clara, die sich nach einem kleinbürgeridyllischen Leben sehnt, nicht zur Ruhe finden kann. Nicht zufällig hat auch Freud den „Sandmann“ psychoanalytisch betrachtet und nicht zufällig wird diese Erzählung von E.T.A. Hoffmann immer wieder auf die Bühne gebracht. Die neueste Fassung stammt von Michael Miensopust am Jungen LTT, der dieses „Schauermärchen“, so seine Genrebezeichnung, im aktuellen Bezug zu einer Jugend sieht, die am Computer nicht mehr zwischen Wirklichkeit und Fiktion unterscheiden kann, wie er in einem Interview sagte. Also ganz weit weg von Narziß und Psycho?
In der Tat spielt Henry Braun als Nathanael zunächst einen burschikosen intellektuellen Jugendlichen mit großer Brille, der nicht begreift, was mit ihm passiert. Aber der „geschlossene“ Raum von Christine Brunner-Fenz erinnert eher an den Raum einer Psychiatrie. Die gestreiften Tapeten an den Wänden, die Tür in der Mitte, die schattenhaft Gitterstäbe erahnen lässt, die verdeckten Zugänge an den Seiten, durch die die Figuren „durch die Wände gehen“ können, der Gang hinter den Wänden, auf denen das Ensemble immer wieder agiert und auf ihn einredet, erinnert an eine Anstalt, zumal das Ensemble dann auch in weißen Kitteln (Kostüme ebenfalls Christine Brunner-Frenz) auftritt. Nur der Bühnenboden mit seinen angedeuteten Augenmustern verweist auf eine symbolische Bedeutung. Damit ist dem „Sandmann“ sein Geheimnis genommen, wenn Miensopust als Regisseur auch immer wieder schöne Bilder mit überraschenden Auf- und Abgängen schafft, aber mit der Zeit werden diese durchschaubar.
Der ganz gegenwärtig gekleidete Nathanael des Henry Braun rennt gegen Türen an, schreit, wenn die Gespenster der Vergangenheit ihn heimsuchen, verliert sich im Betrachten der Puppe Olimpia, die Magdalena Flade als eine Art Sexobjekt mit blonder Perücke spielt. Miensopust entwickelt eine Spielweise, die für die psychischen Befindlichkeiten nach äußerlichen Zeichen sucht und geht am Ende gar, wenn Nathanael Clara vom Turm werfen will und schließlich dann, nachdem Coppelius wieder aufgetaucht ist, selbst springt, ganz in die Erzählung über. Angelina Berger spielt die Clara ständig lächelnd und macht so deutlich, dass sie Nathanael überhaupt nicht versteht. Andreas Laufer hat in blonder Perücke einen fast siegfriedhaften Siegmund zu spielen, der kumpelhaft seine „normale“ Überlegenheit ausspielt. Rupert Hausner brilliert in den drei Rollen als Coppelius, Coppola und Spalanzani. Christian Dähn hat aus dem Material romantischer Melodien eine sentimentalisch klingende Collage geschaffen, die das kleinbürgerliche Gegenbild zum Wahn zu Gehör bringt.