Natürlich ist so eine vereinnahmende Theaterbehauptung gegenüber den Zuschauern – „Auch ihr seid Mahagonny!“ – immer anfechtbar. Denn man kann sich im Theater ja doch im Großen und Ganzen darauf verlassen, dass man wieder heil aus der Sache herauskommt, im Gegensatz zu Jim Mahoney und anderen Besuchern, die sich in der „Netzestadt“ (wie Weill die kapitalistische Lust- und Absahn-Metropole nennt) auf ziemlich jämmerliche Weise zu Tode amüsieren – am Ende zählen in Bremen sogar rote Leuchtziffern die Abgänge im Amüsierbetrieb. Unlängst hatte Elisabeth Stöppler an der Dresdner Semperoper die Zuschauer in Henzes „„We come to the River““:http://www.die-deutsche-buehne.de/Kurzkritiken/Musiktheater/Henze+Wir+erreichen+den+Fluss/Geiselhaft zu Geiseln einer wilden Soldateska gemacht und war daran gescheitert, dass kein Zuschauer ihr das wirklich geglaubt hatte – schließlich konnten die, denen das nicht so recht gefiel, ja vollkommen unbehelligt von den wilden Horden das Haus verlassen. Aber von Peters Ansatz ist intelligenter, weil er das „Wir alle sind Mahagonny“-Setting eben nicht als realistische Setzung versteht, sondern als Identifikationsangebot an die Zuschauer, das er auch immer wieder als solches reflektiert. Deswegen sind die Live-Videos, die das Geschehen in alle Räume übertragen, nicht nur eine Handreichung für bequeme Besucher, die dem Geschehen nicht permanent hinterher rennen wollen; sie sind essentiell für sein Anliegen, weil sie dem Appell zum unmittelbaren Mitleiden am hautnahen Geschehen immer auch die Distanzierung durch ein Medium entgegensetzen: episches Theater als Dialektik von Empathie und Distanz.
Insofern erzählt von Peters Inszenierung immer ihre eigene Meta-Geschichte, oder sogar mehrere – zum Beispiel davon, dass in dieser „Mahagonny“-Produktion nicht nur eine Stadt gegründet wird, sondern auch eine Theatergemeinschaft, die gemeinsam den Mut aufbringt, diese Oper auf diese wahrlich mutige Weise an die Zuschauer heranzutragen. Andererseits übertreibt es von Peter aber auch nicht mit dem theorielastigen „Meta“. Eine wesentliche Qualität seiner Arbeit liegt gerade in der kraftvollen, von allen Beteiligten mitgetragenen Appellativität.
Und das ist extrem wichtig. Denn wie riskant sein Ansatz ist, merkt man zu Beginn. Da im Zuschauerraum kaum noch Sitze sind und dort, abgesehen von den Video-Übertragungen und dem Orchester auf der Bühne, anfangs live wenig geschieht, weiß man nicht so recht, wo das Geschehen eigentlich losgeht: Auf den Rängen? Im Foyer? In den Wandelgängen? Plötzlich sieht man auf den Screens die Leokadja Begbick, Fatty und Dreieinigkeitsmoses in ihren grellen Theaterroben, gestrandet in der Wüste, und schon ist Mahagonny gegründet – und man war gar nicht live dabei!? Da steht man dann also und schaut, plötzlich raunen einige „Besucher“ neben einem die Echos der Songs, und man merkt: Man könnte mittendrin sein, wenn man nur mitmacht – und das ist der Punkt, an dem man sich als Zuschauer entscheiden muss für seine „Rolle“: Will man dem Geschehen nachrennen, nichts verpassen und sich also der gaffenden, sensationsgierigen Bewohnerschaft Mahagonnys anschließen? Oder bleibt man vor einem der Screens stehen, zieht sich damit auf die konventionelle Zuschauerrolle zurück – und nimmt in Kauf, dass all der Rummel irgendwie an einem vorbeigeht?
Wir empfehlen dringend: nachrennen, wohin auch immer, denn das Angebot ist reich, und das Erlebnis der Differenz zwischen Liveact und Video hat einen großen Reiz. Vor allem bemerkt man beim unmittelbaren Zuschauen, dass Benedikt von Peter nicht nur auf das grell überzeichnete, plakative Agieren setzt, also auf jenen epischen Gestus, der das Schauspiel immer auch als eben dies markiert: als zur Schau gestelltes Spiel; sondern dass die Figuren sehr emotionale Geschichten transportieren, hinter denen Schicksale stecken: Nadja Stefanoffs raubtiermäulige Begbick zum Beispiel, ganz geldgeile Verworfenheit von Kopf bis Fuß; Marysol Schalits Jenny, eine empfindsame Hure, die in ihrem Tutu wie eine Schneeflocke durch den gnadenlosen Mahagonny-Trubel weht und sich am Ende aus purer Verzweifelung der Ruchlosigkeit in den Rachen wirft; oder Loren Langs Sparbüchsen-Bill, der immer dann so wunderbar sentimental werden kann, wenn es ihn in Heller und Pfennig garantiert nichts kostet. Die starke Empathie, die von Peter vermittelt, funktioniert über solche nicht unbedingt differenziert, aber doch sehr genau inszenierten Figuren.
Dass die Zuschauer dann zum Schutz vor Hurricane doch noch alle miteinander auf Hockern oder Decken im Parkett versammelt werden, kommt gerade recht, bevor die Aufführung zu sehr zerfasert wäre. Hier ist es vor allem physische die Nähe zu den Akteuren, die den Bann aufrechterhält. So aber vereinheitlicht sich auch die Perspektive der Zuschauer wieder, die zuvor ihren eigenen Weg durch diese Inszenierung finden mussten. Dass der Abend in dieser Rücknahme seiner zunächst sehr offenen Form zur größten Stärke findet, zeigt freilich, dass er zuvor die behauptete Vereinnahmung der Zuschauer ins Geschehen hinein nicht ganz glaubwürdig machen konnte. In dieser Hinsicht war von Peters „„Intolleranza“-Inszenierung“:http://www.die-deutsche-buehne.de/Kurzkritiken/Musiktheater/Luigi%20Nono%3A%20Intolleranza%201960/++/search_highlighter/Intolleranza/ in Hannover intensiver, stärker. Aber als Theaterereignis, das das ganze Ensemble und die Zuschauer miteinander in Schwingung bringt, ist er gleichwohl eine starke Setzung.
Die logistische Leistung des gesamten Teams (Bühne: Katrin Wittig; Kostüme: Geraldine Arnold; Video: Bert Zander; Chor: Daniel Mayr; Werktätigenchor: Thomas Ohlendorf; choreographische Mitarbeit: Jacqueline Davenport; Licht: Christian Kemmetmüller) ist jedenfalls staunenswert. Chor und Solisten, aber auch die Kamerateams müssen ja inmitten der Zuschauer agieren, der Dirigent Markus Poschner muss sich quasi blind darauf verlassen, dass die in anderen Räumen singenden Solisten seinem Dirigat folgen, denn auch die Musik wird permanent überall über Lautsprecher übertragen – ihr Mut und ihre Nervenstärke sind enorm. Und neben den Genannten hat die Aufführung mit Michael Zabanoffs blondem Jim, Christoph Heinrichs rotschopfig-bodenständigem Joe, mit Christian-Andreas Engelhardt, dem man den Vielfraß fraglos abnimmt, oder mit Karsten Küsters äffisch brutalem Dreieinigkeitsmoses starke Protagonisten.
Mit der Versammlung des Publikums zur „Gerichtsverhandlung“ waren dann auch die Spielregeln der konventionellen Applausordnung wieder gewährleistet, und die Zuschauer ließen sich nicht lumpen. Man fühlte sich bestens unterhalten und zahlte in bar mit Jubelrufen und Händeklatschen. Was ja auch wieder eine gewisse Ambivalenz hat – fehlten dieser Verwandlung des ganzen Theaters in die Stadt Mahagonny am Ende vielleicht doch ein paar Widerhaken?