Foto: Verbrennen, um zu überleben: Albert Bork, Thomas Schweiberer, Fabio Menéndez und Dagmar Geppert (v.i.n.r.) in „Violetter Schnee" © Sonja Rothweiler/Theater an der Ruhr
Text:Andreas Falentin, am 4. September 2021
Das Schlussbild schmerzt. Und man muss es lange ansehen. Ein Esstisch mit einer weißen Decke in einem großen Raum. Darauf ein frisch gebackenes Brot. Und niemand, der es isst. Niemand, der es essen wird.
Zu Beginn sitzen fünf Menschen auf Stühlen auf einem schadhaften Holzbohlenboden. In der Mitte ein Esstisch, hinten rechts ein alter Ofen, zentral oben an der Rückwand ein Fensterchen in Form einer Blüte mit sechs Blättern, ein wenig wie ein Kirchenfenster.
Von links kommt der Regisseur Roberto Ciulli mit einer alten Trittleiter aus Holz. Er setzt sich vor die Bühne und rezitiert ein Prosagedicht des saarländischen Lyrikers Johannes Kühn über den Verlust des inneren Gleichgewichts. Angst hat sich im Leben ausgebreitet und Überdruss. Selbst die Natur, die immer geholfen hat, hilft nicht mehr. Ciulli rezitiert souverän, mit Pausen, wie um sich neu zu fokussieren, mit leiser Eleganz. Schon nach wenigen Sekunden wispert es aus einer der letzten Reihen: „Ich versteh‘ kein Wort.“
Als ob das dazugehörte. Wie Ciullis letzte Arbeiten, wie „Boat Memory“ vom Dezember 2019, wie „Gespenster“, wo er nicht selber Regie führte, aber den Osvald spielte, geht es auch in „Violetter Schnee“ vor allem um Stille. Aus Stille sind diese Aufführungen entwickelt, Stille ist die wesentliche Bedrohung für ihre Figuren. Und immer versuchen sie, der Stille mit letzter Kraft leise etwas Existenzielles entgegen zu setzen, was Roberto Ciulli als vom Verlöschen bedroht ansieht: Menschliche Gemeinschaft. Humanität.
Der Regisseur klappt seine Leiter zusammen und geht. Das Spiel beginnt. Seit drei Monaten schneit es in Europa unaufhörlich. Die drei Männer müssen jeden Morgen aufs Dach steigen und den Schnee entfernen, die Frauen backen Brot und bereiten Essen, vor allem aus den gewaltigen Vorräten von Dosenfutter für den unlängst verstorbenen Hund. Wir lernen sie kennen: Jacques (Thomas Schweiberer), den schwulen Buchhändler, der gern Witze macht und sich zynisch-elegant gibt; Peter (Fabio Menéndez), den sympathischen Paläontologen, der sehr vernünftig scheint und eine poetische Ader hat; Natascha (Dagmar Geppert), die Witwe von Alex, der das Haus gehört; sie hat eine Affäre mit Jan (Albert Bork), der mit der Bratschistin Sylvia (Simone Thoma) verheiratet ist, die ein Nazi-Trauma hat und säuft. Sie sind von allen anderen abgeschnitten. Lange Zeit. Doch irgendwann fällt Licht durch das kleine Rundfenster und kündigt an, dass es nicht mehr schneit. Durch die gewaltige Menge der Schneekristalle wird das Licht violett reflektiert. Die fünf schmieren sich die Gesichter mit Sonnenschutzmitteln ein, setzen ulkige, weiße Hüte auf, setzen sich hinaus und blicken in die Fläche und auf das Wunder. Die Fläche sind wir, das Publikum. Wir isind der Schnee an diesem Abend. Wir werden beleuchtet für das Ensemble, das darüber philosophiert, dass alle in Einklang kommen müssen. Alles, nicht nur das Theater und sein Publikum. Aber das, sie und wir, ist spürbar gemeint und wäre zweifellos eine wichtige Keimzelle. Dann gehen sie ab.
Wie klingt das alles? Als ob man nach Mülheim fahren sollte? Kann man gut machen. Allein wie gespielt und, natürlich unverstärkt, gesprochen wird: Das ist alles gelassen und genau, will hier absurdes Theater sein und da boulevardeske Momente einstreuen. Und genau das ereignet sich. Pointen scheinen sich selbst zu setzen. Die, klug künstlich bleibenden Figuren interessieren uns dennoch. Ihr von Selbstmitleid durchzogenes Geschwätz erscheint relevant, wirft uns geradezu auf unser Verhalten im Pandemie-Lockdown, auf den seit 18 Monaten andauernden Regentanz für „Normalität“. Die Angst, der Überdruss, die Sehnsucht, die Austrocknung von Kommunikations- und Sozialkompetenz – alles ist da, ohne irgendetwas explizit auf Corona zu beziehen und doch sehr treffsicher. Dazu kommen schräge kleine Bilder, die sehr geruhsam gebaut werden, irritieren und doch entzücken. Hier geht es fast immer um Wärme, um Nahrung fürs Feuer, um das Verbrennen von Substanz. Eine akustische Variante: Um das Feuer am Leben zu erhalten, werden die dicksten Belletristik-Bände aus dem Bücherschrank ausgewählt: „Der Zauberberg“, „Ulysses“, „Der Mann ohne Eigenschaften“. Die drei Männer greifen zu Mikrofonen, lesen – gleichzeitig! – kurze Passagen vor und man versteht ein einziges Wort im Lautgeklingel: „Castorp“. Dann fahren die Bücher in die Grube, verbrennt ein Stück Kultur. Ein Ritual. Die sind ein weiteres Thema, von diesem Theaterabend und von Roberto Ciulli. Auch sie werden erforscht und das Ergebnis wird spielerisch vorgezeigt. Und witzig. Vor allem der – auch er nie laut, versteht sich – Witz verhütet, dass die Erzählung von jenem Selbstmitleid ergriffen wird, das sie ständig zu gestalten hat.
Nebenbei ist der Abend übrigens eine Uraufführung. Der russische Schriftsteller Vladimir Sorokin entwarf und gestaltete den Stoff als Libretto für eine gleichnamige Oper des Schweizer Komponisten Beat Furrer, die 2019 erfolgreich in Berlin uraufgeführt wurde. Aber die Musik fehlt nicht. Dies hier ist etwas Anderes. Etwas Eigenes.