Foto: Hauptdarsteller in Barrie Koskys Inszenierung: der grandiose Chor der Komischen Oper Berlin beim Tanz ums Goldene Kalb. © Monika Rittershaus
Text:Detlef Brandenburg, am 20. April 2015
Immer wieder haben Regisseure und Dirigenten beteuert, Arnold Schönbergs „Moses und Aron“ sei eine „Choroper“. Das ist sie ist zweifellos – aber natürlich nicht nur das. Sie ist vor allem eine Gottesoper, die am Beispiel des biblischen Brüderpaares den unaufhebbaren Gegensatz zwischen dem göttlichen Prinzip in seiner Reinheit und dem Bild durchspielt, das sich der Mensch von diesem Prinzip macht: Moses, der Mann des Gedankens, dem Schönberg seine Gottesreflexionen in Form eines unkantablen Sprechgesangs in den Mund legt; und Aron, der das Volks mit halbseidenen Wundern und Tenorschmelz zu Gott verführen will. Sie ist zudem eine zionistische Oper, in der Schönberg die Hoffnung auf das gelobte Land allerdings weit skeptischer abhandelt als in seinen tagesaktuellen Stellungnahmen oder in seinem Drama „Der biblische Weg“. Und sie ist schließlich auch eine Künstleroper, die man durchaus als Selbstkommentar Schönbergs auf die Vermittlungsprobleme seiner Zwölftontechnik lesen kann, bei der der reine kompositorische Gedanke ja auch in ein heikles Spannungsverhältnis zur Sinnlichkeit gehörter und erlebter Musik tritt.
Eigentlich hat diese Oper aber neben Moses und Aron noch eine dritte Hauptfigur: das Volk Israel, götzengläubig, unberechenbar, kleinmütig. Und mit dem Volk sind wir wieder bei der Choroper. Die ausgedehnten und enorm anspruchsvollen Chorpartien (fast 100 musikalische Chorproben waren jetzt an der Komischen Oper nötig, bevor die szenische Arbeit beginnen konnte) haben „Moses und Aron“ ja auch den Ruf des Oratorischen eingetragen, was gut zum religiösen Gehalt zu passen scheint. Nun aber hat Barrie Kosky dem Werk alles Oratorische radikal ausgetrieben. So konsequent wie wohl noch kein Regisseur zuvor hat er den Chor, der in wimmelnden Massen (über 200 Mitwirkende sollen es sein) die ganze Bühne bevölkert, tatsächlich als dramatische Hauptperson profiliert. Unterstützt von dem Choreographen Hakan T. Aslan arbeitet er die ganze Zerstrittenheit, Manipulierbarkeit und Hysteriebereitschaft dieses wankelmütigen Volkes mit packender gestischer und szenischer Intensität heraus – nicht im Sinne eines realistischen Aktionstheaters, sondern stets in einer artifiziellen Stilisierung, die in ihren aufgeregten, immer wieder unterschiedliche Gruppen ausbildendenden Gestikulier- und Fuchtelchoreographien manchmal an einschlägige Bilder aus dem jüdischen Schtetl erinnert. Man würde sich nicht wundern, wenn sich auch ein Milchmann namens Tevje unters Volk gemischt hätte. Dieses vehemente Präsenz, die der von David Cavelius einstudierte Chor der Komischen Oper grandios über die Rampe bringt, verleiht Koskys Inszenierung enorme Wucht und Vitalität.
Kosky hat das Werk zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz angesetzt. Aber er verzichtet weitgehend auf eindeutige Anspielungen. Klaus Grünberg hat einen cool modernen Durchgangsraum für Menschenmassen auf die Bühne gebaut, eine flach nach hinten fluchtende, kahle Treppenarchitektur unter einem tiefen Plafond mit Lichtkreisen, die ein Wartesaal sein könnte, Verbindungshalle einer U-Bahn-Station, irgendein Raum, wo man nicht zuhause ist, sondern auf der Durchreise – oder in der Diaspora. Auch die Kostüme von Klaus Bruns lassen in ihrem leicht altmodischen Alltagsrealismus keine zwingenden Assoziationen zu. Es geht Kosky weniger ums Lokalkolorit als ums Typologische.
Das aber wird im konkret Menschlichen ungemein präzise herausgearbeitet. Moses und Aron sind für Kosky zwei konkurrierende Zauberer mit Zaubererzylinder auf dem Kopf und gerüschtem Hemd unterm Jackett: Moses der Mann der höheren Magie; und Aron ein Volksverführer in Gestalt eines Taschenspielers, dessen Tricks hier viel Raum gegeben wird. Kosky macht ungemein plastisch, dass es die Ungreifbarkeit des Gedankens an sich ist und nicht etwa mangelnde Mitteilungsbereitschaft, die dem Gottesmann Moses die Zunge lähmt; und dass die geläufige Mitteilsamkeit des Bruders auf der Skrupellosigkeit des Menschenfischers beruht. Der eine ein Wahrheitsliebender, dem das Volk nicht folgt; der andere ein Demagoge, der das Volk hinters Licht führt. Ähnlichkeiten zu politischen Diskursen unserer Tage sind da nicht unbedingt zufällig. Auch auf zwei andere gescheiterte Gottessucher wird angespielt, deren Gott Godot heißt – gleich zu Beginn flimmert ein Zitat aus Becketts Drama auf dem Zwischenvorhang. Und der Tanz ums Goldene Kalb ist eine Inszenierung aus Hollywoods Traumfabrik, wo das große Kapital die billigen Illusionen produziert – und wohin Schönberg vor den Nazis fliehen musste.
Hier allerdings verzettelt sich Kosky in etwas belanglosen bildlichen Assoziationen und verheddert sich in der elend langen Dramaturgie dieses Tanzes. Siegmund Freud, Fritz Lang und Theodor Herzl kurbeln abwechselnd die Kamera. Eine goldene Tänzerin mit weißem Federkopfschmuck und später noch drei gut gebaute Herren dazu vertreten anmutig das Goldene Kalb. Fette Otto-Dix-Kapitalisten torkeln durchs Gewusel. Mannsgroße, vom Chor geführte lebensgroße Puppen visualisieren den Zerfall des mosaischen Glaubens in unterschiedliche Religionen. Und am Ende – da findet die Inszenierung dann wieder zu einem starken, an Boltanskis Installationen erinnernden Bild – zerfleddert das Volk die Puppen und schichtet sie zu einem großen Haufen auf, der weder ganz zufällig noch penetrant eindeutig Assoziationen zu den Kleiderbergen der KZs weckt.
Wo aber solche historischen Hintergründe aufscheinen, da ist die Hoffnung auf das gelobte Land irreparabel beschädigt. Moses‘ letzte Worte sind in diesem Kontext ein abschließendes, resignatives Resümee: „O Wort, du Wort, das mir fehlt!“ In Koskys Inszenierung wirkt „Moses und Aron“ keineswegs als Fragment. Kein dritter Akt, den Schönberg ja noch komponieren wollte, und auch nicht der bereits fertige Text kann die von Kosky aufgezeigten Aporien heilen. Das Warten auf Godot ist bereits der Endzustand.
Was der Chor hier auch gesanglich leistet, ist umwerfend und wurde vom Publikum mit Riesenbeifall bedacht. Der Bariton Robert Hayward gibt dem Moses angemessen spröde Ausdruckskraft und eine wuchtige Statur, John Daszak verleiht dem Aron grellen Tenorglanz und aalige Entertainer-Eleganz. Beide haben große Bühnenpräsenz. Aus dem Riesenensemble bleiben Julia Giebel als lyrisch beseeltes junges Mädchen, Michael Pflumm als konturklarer Jüngling und Jens Larsen als wuchtiger Priester in Erinnerung. Das Orchester der Komischen Oper entfaltet unter Vladimir Jurowski eine grelle, allerdings nicht immer konturenscharfe Prägnanz, die manchmal geradezu an Kurt Weill erinnert. Am Ende einhellige Begeisterung für den sperrigen Brocken. Kosky und die Komische Oper sind weiter unterwegs auf der Erfolgsbahn, diesmal sogar mit schwerem Gepäck.