Foto: Open Opera: Szene aus der Rheingold-Adaption auf dem Parkdeck der Deutschen Oper © Bernd Uhlig
Text:Roland H. Dippel, am 13. Juni 2020
Trotz Pandemie und gegen alle für Musiktheater und Kulturorchester besonders widrigen Zeitumstände stemmte Berlins größtes Opernhaus Wagners „Rheingold“ – und zwar auf den Tag genau zum vor Corona vorgesehenen Start des die legendäre Produktion von Götz Friedrich ablösenden „Ring“-Zyklus in der Regie von Stefan Herheim, der am Premierenabend unter freiem Himmel im Publikum saß und sah, was ihm für ein hervorragendes Ensemble zur Verfügung stehen wird.
Wagner unter Pandemie-korrekten Bestimmungen? Ja: Generalmusikdirektor Donald Runnicles und Spielleiter Neil Barry Moss holten den Vorabend von Wagners Bühnenfestspiel-Vierteiler aus dem geschlossenen Opernhaus an die frische Luft und 22 Musikerinnen und Musikern aus dem Graben auf die Ebene hoch über den Solisten. Ungewohnt und trotzdem stimmig, weil doch eher der Polittalk „Rheingold“ und nicht das Liebesmysterium „Tristan und Isolde“ Wagners fortschrittlichstes Opus ist: Man saß nicht in der erwartungsvollen Gedrängtheit eines verdunkelten Saals, sondern im hellen Licht des ersten richtig warmen Frühsommerabends, hatte anstelle gespannter Konzentration viel Raumvolumen und anstelle des Gefühls der Exklusivität einer passionierten Gemeinde eine offene Aura für maximal 200 Zuschauende. Eine Bar mit gepflegten Getränken war auch vorhanden und sogar Wagner-Jünger, sofern sie nicht aus Angst vor Reliquienschändung fernblieben, mussten Anspruch, Intelligenz und Geschick von Jonathan Doves Slim-Instrumention für die Opera North anerkennen. Hubschrauber-Brummen und ein erstaunliches Vogelkonzert bereicherten das Klangpanorama in der leichten Abendbrise. Nicht nur, weil sich Alberich statt in den Riesenwurm in einen Esel verwandelt, war der Gedanke an den „Sommernachtstraum“ nicht fern. Viele Anhänger des Hauses kamen und freuten sich, selbst wenn Tränen über das Ende der opernfreien Zeit nicht in derart massiven Sturzbächen flossen wie herbeigeredet. Einziges Handicap: Programmhefte waren schneller alle als Stoffmasken (sinniger Schriftzug über den vermummten Lippen: „Hojotoho!“).
Keine Schlange am Eingang Krumme Straße, über schmale Betonstufen kam man schneller an der Security vorbei als gedacht. Die Deutsche Oper hatte mit einem Mittelgang die volle Bestuhlung auf ganzer Breite des Parkdecks aufgebaut, zwischen den freien Einzel- oder maximal Paarplätzen waren die meisten mit Folien verschnürt. Positionswechsel also unmöglich. Die top-urbane Location mit der Fensterfront zum Bühnenhaus, der oberen Rampe – in dieser Produktion die Orchesterebene – und das Spielpodest auf mittlerer Höhe haben definitiv etwas. Das bereits 2014 wegen des Einbaus der neuen Obermaschinerie für Iannis Xenakis’ „Oresteia“ genutzte Parkdeck erfüllt alle Voraussetzungen für Dauernutzung in der warmen Jahreszeit. Auch die Akustik ist blendend: Donald Runnicles gibt zu, dass beim Orchester „etwas dazugegeben“ wurde (und meint damit dezente elektroakustische Verstärkung). Stimmen klingen ohne Verstärkung von jeder Stelle sängerfreundlich voll, klar und minimal hallig. Damit lässt sich musikalisch gut bis sehr gut arbeiten.
Nach Erteilung der Spielgenehmigung durch den kooperativen Berliner Senat hatte die Deutsche Oper zehn Tage Zeit bis zur Premiere, drei Wochen insgesamt von der Idee bis zur Aufführung. Vieles war möglich: Bühnenbildnerin Lili Avar setzte außer den Walküren-Brustpanzern aus früheren Inszenierungen keine dekorativen Zeichen für Mythos. „Wir SPIELEN!“ ist der wichtigste Inhalt, Impuls und Ideengeber: Die Wiedereroberung der zuerst mit jungfräulich weißen Laken bedeckten Requisiten und Kostümständer wird zum visuellen Hauptmotiv. Der Einzug der Götter in Walhall betrifft auch das Publikum, wenn gelbe Transparente mit Stücktiteln der entfallenen Aufführungen aus den Fenstern fallen. Willkommen zurück in der Opern-Burg: Für Mord, Beschaffungskriminalität, sexuelle Übergriffe und Wagners nach handfestem Körperkontakt schreiende Vorgaben gibt es diesmal allerdings nur Andeutungen. Neil Barry Moss trickst und unterspielt in seiner Regie beiläufig. Ein lückenlos stichhaltiges Konzept kann man in diesem knappen Zeitraum und unter den bestehenden Auflagen nicht verlangen. Aber die Benennung „halbszenische Aufführung“ zeugt von viel zu großer Bescheidenheit des Hauses. Kleinere Striche machte das Ensemble aktionsfreudig vergessen. Dove hatte bereits die Tenor-Partien Froh und Mime eliminiert und den ersten Teil der Nibelheim-Szene komplett entsorgt.
Die innerhalb einer Stunde ausverkauften fünf Vorstellungen sind eine optimale Fügung glücklicher Umstände: Schon vor dem Lockdown wurde für „Rheingold“ musikalisch geprobt. Viele der Partien dieses Stücks lassen sich an einem großen Haus mit großem Ensemble wie dem der Deutschen Oper aus den eigenen Reihen gut besetzen. Für die vier Hauptpartien gab es sogar beglückende Überraschungen, aber nicht nur diese glänzten stimmlich mit ausdrucksstarker Jugendlichkeit und darstellerischer Plausibilität – wie der erst auf dem Regiestuhl posierende Wotan (Derek Welton), Loge als Regieassistent (Thomas Blondelle), Annika Schlicht als emotionale Damendragonerin Fricka und der besondere Fall Alberich (Philipp Jekal), an dem Moss‘ aktuelle Debatten unaufdringlich thematisierende Regie-Haltung besonders deutlich wird. Der sich mit blonder Perücke und Blumenschlaghose amüsierende Alberich versteht nicht, warum die selbstbewussten Rheintöchter (Elena Tsallagova, Irene Roberts, Karis Tucker) seine plumpe Anmache ignorieren. Man sieht sogar Werdendes, wenn die vollschwangere Urmutter Erda (Judit Kutasi) ihren großen Auftritt durch die Mitte nimmt und ihr weißer Kunstpelzmantel fällt.
Jonathan Doves musikalische Einrichtung aus dem Jahr 1990 ist nicht nur für die Pandemie-Zeit ein ernstzunehmender Ersatz für die auch von größeren Orchestern oft eingedampfte Wagner-Dröhnung. Um das Solostreichquintett ereignet sich in der souverän und passioniert spielenden Gruppe des Orchesters der Deutschen Oper Berlin vieles aus Wagners wissendem Orchester. Selbst wenn es nur eine Harfe statt der vorgeschriebenen sechs und das Amboss-Wummern von Loges Ghettoblaster statt Wagners meist erfolglos vorgeschriebenen 16 Ambossen kommt. Wagners motivische Arbeit und Satztechnik sind in Doves Arrangement transparenter als bei 32 Geigen und acht Hörnern. Auch darüber lässt sich nachdenken: Von Dove gibt es zum Beispiel eine phänomenale Einrichtung von Janáčeks „Das schlaue Füchslein“, Richard Strauss hatte (Tantiemenfluss vorausgesetzt) nichts gegen „Salome“ mit kleinen Orchestern und in vielen europäischen Theatern saßen für Donizetti und Smetana nur 25 Musikerinnen und Musikern im Graben. Ohne ästhetisch oder stilistisch fragwürdige Kompromisse könnte Hören und Sehen also anders gedacht werden – nicht um Personal einzusparen, sondern um Spielbetrieb, Betriebsstrukturen und Auftrittsmöglichkeiten der Musiktheater bis zur Bewältigung der Pandemie tragfähig zu sichern. Auf dem Parkdeck vielleicht sogar durch Gastspiele freier Ensembles, welche keine gesicherte Finanzdecke wie die Subventionsbühnen haben.