Foto: Das Magdeburger Ensemble leistete größtmögliche Reizüberflutung. © Kirsten Nijhof
Text:Roland H. Dippel, am 17. März 2019
Achtzig Minuten Spieldauer standen im Vertrag, real wurden es mehr als 120. Eine derartige Verdichtung der künstlerischen Mittel und Sparten, literarischer und musikalischer Motive wie bei dieser Uraufführung der Oper Magdeburg ist selten. Ihren Ursprung hatte die Idee beim IMPULS-Festival Sachsen-Anhalt.
Kreative Ökonomie gehört ganz sicher nicht zu den Maximen der „retrofuturistischen“ (Puppen-)Theatermacherin Roscha A. Säidow, Jahrgang 1985, und des britisch-chinesischen Komponisten Jeffrey Ching, geboren 1965. Erschöpfung ist also das Resultat der Uraufführung von „The True Story of King Kong“: Die „Kammeroper mit Puppen in drei Akten“ wurde zum Prototyp von Kalorienmissbrauch bei einer veganen Schlemmerorgie. Alles ist sehr korrekt und zielt auf größtmögliche Reizüberflutung. Als Publikum fühlt man sich wie in einem gigantischen Schnäppchenparadies der kulturellen Zeichen. Diese Produktion will das Mehr um jeden Preis. Deshalb zählt die Fülle des Aufwands auch mehr als die thematische Konzentration. Das gleicht einer Völlerei mit XXXL-Veggie-Burgern und macht doch nicht satt. Aber die Garnitur ist blendend, bestechend, betörend.
Wo beginnen? Konsequent sucht das frühe 21. Jahrhundert seine neuen Mythen in den nach dem Ersten Weltkrieg zur vollen Breitenwirkung abhebenden Massenmedien. Der Ur-„King Kong“, seine Leinwand-, Bühnen- und Kunst-Nachfahren bieten dazu vieles an Hintergrund-Themen, was uns heute anspringt: „Interkulturalität, Gender, Imperialismus!“, fasst Jeffrey Ching zusammen, die Oper Magdeburg textet griffig weiter: „Matthäuspassion meets Dschungelbuch“. Wie wahr! Die Einzelteile des Abends für sich genommen sind großartiger als deren Summe bzw. Interaktion.
Der Plot: Der „Fall King Kong“ kommt vor ein episch-dramatisches Tribunal. Ein Richter (Caitlin Redding) vernimmt die bekannten und die von Säidow dazu erfundenen Figuren, nämlich die für King Kong vorgesehene Verlobte Miranda (Andión Fernández) und einen Kellner von der wilden Insel (Kim Schrader). Die beiden werden übrigens zu den bewegendsten Figuren des Abends. Aber das ist vielleicht doch nur Blendwerk für den unbelehrbaren, verbohrten westlichen Blick auf Fremdes. Das Starlet Ann (Lauren Urquhart), Filmproduzent Denham (Bradley Smith) und King Kong (James Bobby) erhalten von Seiten der Szene weitaus weniger Kontur. Jede Figur hat mindestens ein künstlich-artifizielles Pendant. Das Theater Magdeburg ließ sich diese Produktion der Oper im Schauspielhaus viel kosten: Die Sänger dieser ersten Zusammenarbeit mit dem Puppentheater Magdeburg sind allesamt Gäste.
Aus telefonzellenartigen Boxen treten die menschlichen Solisten und beginnen das Spiel, bei dem die sechs Puppenspielerinnen und Puppenspieler neben ihren Kernaufgaben auch Aufgaben eines stummen Chors und einer vielfältig funktionalisierten Edelstatisterie erfüllen. Nichts Neues: Wer so viel Stoff anhäuft wie Säidow, gibt die sinnstiftende Verantwortung nur zu gerne an die hier meisterhafte Gestaltung von Video (Roman Hagenbrock) und Bühne (Julia Plickat) ab. Dekoratives I-Tüpfelchen sind die Kostüme von Kerstin Schmidt, die den weißen Kreativen vom Expressionismus inspirierte Coutures zuordnete, den Insulanern aber komplementär naturverbundenes, integres Orange wie von Blütenblättern einer Clivia. Auffallend: Jeffrey Ching komponierte als Kontraste zwischen „Weißen“ (schlingpflanzenähnliche Tonalität) und „Wilden“ (harmonische bzw. rhythmische Tendenzen zum Amorphen) genau jene klischeehaft konträre Opposition, die man derzeit bei anderen Werken gerne als in Töne gemeißelte imperialistische Haltung der westlichen Hochkultur stigmatisiert. Ironie, polyvalenter Seitenhieb oder Anspruch auf sinnfreie Autonomie von Musik?
Beeindruckend die Gliederung der Bühne in drei visuelle Ebenen: eine Hauptspielfläche, eine transparente Projektionsleinwand und eine weitere große Spielfläche dahinter, auf der Menschen, Figuren, Dekorationen agieren und für Zuschauer die Mittel zum Verfließen bringen. Filmillusionen entstehen durch Überlagerungen, Vergrößerungen und die Interaktion der Darsteller mit Puppen. King Kongs Sturz vom Empire State Building geschieht an einem Architekturmodell. Auch der gigantische Gorilla ist eine nur fingerhohe Stabfigur – oder sein Riesenkopf steckt auf einem Balken in Portalhöhe. Das aberwitzig schnelle Tempo drängt alle noch so hartnäckig versuchten Aufmerksamkeiten ins Schwächeln.
Den einzigen echt dramatischen Akzent bewirkt der erst spät zu dem Projekt gestoßene Dirigent Kiril Stankow. Er leitet Jeffrey Chings polyphones, mit inflationär vielen Zitaten aufgemöbeltes Gestrüpp aus Stimmen und Instrumenten mit stoischer, ruhig strömender Konzentration. Inmitten der Überflut visueller und akustischer Über-Informationen kann er es sich deshalb erlauben, bei den besonders wild scheinenden Figurationen des Kammerorchesters mit vier Schlagzeugern, Solostreichern und Harmonie-Gruppe die Arme zu senken. Stankows Ökonomie der Bewegungen wird zur Muskete, mit der er sich einen Pfad durch Jeffrey Chings performativ gestylten Partitur-Urwald und die wuchernde musikalische Vegetation aus mindestens drei Kontinenten haut. Wenn es nicht täuscht, imitiert Ching in einer Sequenz sogar die Syntax des Höllenritts aus „Fausts Verdammnis“. Trotz aller Amalgamierungen seiner wenig einfallsreichen Anleihen bei Bach und Häppchen-Entnahmen von Berlioz und vielen anderen treibt Chings Stimmengeflecht nur wenige bis keine farbenfrohen oder gar diversifizierenden Blüten.
Nach der Pause bleiben einige Plätze leer, trotzdem schwillt der Applaus am Ende zu fast lärmender Zustimmung. Das ist absolut synchron mit der Lust an der sich als frisch verstehenden Opulenz technischer, szenischer und musikalischer Mittel. Die Antithetik des Hellen und Dunklen, die in jedem Menschenwesen steckt, geht als chorischer Prolog dem Geschehen voraus und wird am Ende wiederholt. Das ist wie die Polarisierung von Ketchup und Mayo oder von Muffin und Pommes. An diesem Abend bestätigt sich Jeffrey Chings und Roscha A. Säidows Talent, ihr vermutliches Anliegen mit ganz viel technischem simultanem Zierrat zu überwölben. Deshalb packt die Produktion weitaus mehr durch redundante Fülle als durch Intensität. Aber vielleicht täuscht dieser Eindruck nur nach der Ermattung durch semantische Atomisierungen und zu viel musikalisches Fingerfood. Oder es handelt sich um die für Ersthörer ausgetrickst missverständliche Geburtsstunde eines neuen synthetischen Genres: Bühne frei für das „Animationsoratorium Nr. 1“.