In der Übersetzerwerkstatt, vorne links David Luque als Erzähler

Wieviel Sprache braucht der Mensch?

Elena Mendoza, Matthias Rebstock: Der Fall Babel

Theater:Schwetzinger Festspiele, Premiere:26.04.2019 (UA)Autor(in) der Vorlage:Fabio Moràbito, Yoko Tawada, Cécile WajsbrotRegie:Matthias RebstockMusikalische Leitung:Walter Nußbaum

Wie war das noch gleich mit dem Turmbau zu Babel im Alten Testament? Da wollten Menschen einen möglichst hohen Turm bauen und ein Gott bestrafte oder beschenkte sie dafür mit Vielsprachigkeit. Fluch oder Segen?

Um diese Frage kreist „Der Fall Babel“. Die spanische Komponistin Elena Mendoza und der deutsche Librettist und Regisseur Matthias Rebstock halten sich in ihrer dritten in symbiotischer Verbindung entstandenen Arbeit für das Musiktheater von konkreten Bibelbezügen frei. Sie stellen ihre Frage anhand von drei zeitgenössischen Erzählungen, in denen es darüber hinaus darum geht, inwiefern Sprache zwingend Teil kultureller und individueller Identität ist.

Anzeige

In „Los Vetriccioli“ erzählt der Italo-mexikanische Autor Fabio Morábito in einer Art magischem Realismus von einer Übersetzersippe, die in einem labyrinthischen Gebäude haust, nur der Sprache lebt und schließlich von einem Konkurrenzunternehmen ausgerottet wird; in „Bioskoop der Nacht“ schreibt die in Deutschland lebende Japanerin Yoko Tawada von einer Deutsch-Japanerin, die rätselhafterweise auf Afrikaans träumt und in dem Hörspiel „W wie ihr Name“  von Cécile Wajsbrot will eine junge Französin die Muttersprache ihrer jüdischen Familie lernen und muss dies über den Umweg der Sprache der verhassten deutschen Verfolger tun.

Mendoza und Rebstock erzählen diese Geschichten weder noch beuten sie sie aus: Sie lassen sich inspirieren. Zunächst scheint Mendoza aus dem Stoff, aus den Ähnlichkeiten und Unterschieden der erzählerischen Gestaltungen, eine Klangidee gewonnen zu haben, die von den zwölf Sängern der Schola Heidelberg, drei Schlagzeugern und zwei Schauspielern grandios umgesetzt  und vom SWR EXPERIMENTALSTUDIO auf gleichem Niveau elektronisch überformt und raumakustisch ins schmucke Schwetzinger Rokoko-Theater eingepasst wird. Die Komposition ist oft clusterhaft aufgebaut und thematisiert die Klanglichkeit der vier verwendeten Sprachen (deutsch, spanisch, französisch, englisch). Gleichzeitig findet Mendoza für jede Geschichte eine eigene Ebene: abgehackte, mechanische Abläufe für die Übersetzer, Sphärisches für die träumende Japanerin, flächige musikalische Dichte für die Französin. Der von Matthias Rebstock gesetzte und kompilierte Text wirkt fast schon wie eine Bebilderung dieser Musik und scheint diese zu verlängern, betont das lyrische Element bei den Übersetzern mit dem, das dramatische bei der Französin, das Epische bei der von Ayano Durniok eindrücklich gespielten Japanerin. Dass das alles einen ganz organisch anmutenden Fluss ergibt, ist der großartigen, anfeuernden Koordination durch Walter Nußbaum genauso zuzuschreiben wie der Brillanz der Musiker und der, im Spiel auch solistisch geforderten, wunderbar homogenen Schola.

Dazu kommen naturgemäß, wir sind im Musiktheater, tatsächliche Bilder. Dafür hat sich Bettina Meyer einen nach allen Seiten offenen Würfel einfallen lassen, der beständig, sichtbar von Muskelkraft bewegt, um die eigene Achse rotiert. Drei Seiten sind je einer der Geschichten vorbehalten, die vierte den Percussionisten bei der Arbeit. Alle 17 Mitwirkenden sind permanent in diesem Würfel anwesend, müssen ihre zahllosen Perücken- und sonstigen Kostümteilwechsel und die Zugänglichkeit ihrer Requisiten also ohne jeden Theatertrick organisieren und sind somit beständig unterwegs in diesen kurzweiligen 75 Minuten.

Es ist eine große Stärke von Rebstocks und Meyers Arbeit, dass trotz dieser räumlichen Enge und mit erstaunlich einfachen Mitteln eigenständige Bildwelten für alle drei Geschichten entstehen, wobei hier und da vielleicht sogar ein wenig zu detailverliebt gearbeitet wird, etwa mit der unnötig denunzierenden Perücke der Lehrerin.Eine weitere große Stärke ist es, dass Rebstock die Fragestellung nie aus dem Blick verliert. Es gibt also nicht nur fesselnd erzählte Momente und Geschichtenfragmente zu sehen, sondern Babel ist auf allen Ebenen präsent, in der raumakustischen Gestaltung wie in der kafkaesk undurchschaubaren innenarchitektonischen Gestalt des Würfels oder in der Tatsache, dass im Prinzip explizit auf Übertitelung verzichtet wird, was ja den babylonischen Sprachfluch erlebbar macht. Allerdings gibt es hier Ausnahmen: Wenn der spanische Schauspieler David Luque in seiner Heimatsprache von den Übersetzern erzählt, rollen diese an den unmöglichsten Stellen Papierrollen ab auf denen sein Text zu lesen ist – oder nichts.

Gegen Ende scheinen die Stoffe dann ineinanderzufließen wie die Klänge, alles wird Menschen- und Sprachmasse und plötzlich ist der Würfel leer, fährt zurück und wird mit Museumsabsperrungen umkleidet. Und eine Reisegruppe samt Führerin kommt, die, in englischer Sprache und mit genau portioniertem Spaßfaktor, ein Relikt aus einer Zeit erklärt, als noch viele Länder und Völker ihre eigenen Sprachen hatten. Was ja auch etwas Schönes ist, vielleicht sogar etwas Nötiges, oder?