Szene aus "Zählen & Erzählen"

Wieso ist diese Welt so komisch?

Mauricio Kagel: Zählen und Erzählen

Theater:Staatstheater Mainz, Premiere:19.03.2022Regie:Cordula DäuperMusikalische Leitung:Tobias SchwenckeKomponist(in):Mauricio Kagel

Wer durchschaut das Spiel der Verwechslungen im vierten Akt von „Le nozze di Figaro“? Wer weiß aus dem Stegreif das Problem der vertauschten Kinder in „Il Trovatore“ aufzulösen? Wie ist das mit Midas und Jupiter in der „Liebe der Danae“? Operntexte sind nicht gerade klar und stringent. Und dass die Vorgänge auf der Bühne alles erklären würden, ist auch eine Mär. Charles Bovary, der Gemahl von Flauberts „Madame Bovary“, hält Edgardo, den Liebhaber Lucia di Lammermoors, für ihren Widersacher, den Intriganten Normanno für ihren Geliebten und ihren Bruder Enrico für ihren Vater. Doch haben die herkömmlichen Opern zumindest einen szenisch angelegten Text, der nacherzählbar ist, der Regieanweisungen enthält und Raum für Musik und Gesang lässt.

Nicht so bei Mauricio Kagel: Der hatte bereits bei seinem 1971 in Hamburg uraufgeführten „Staatstheater“ die Kategorie einer Handlung schlichtweg negiert, neun Szenen frei zur Disposition gestellt und die Sprache lustvoll pervertiert. 1976 hat er sich dann ein Spiel ausgedacht, das sich nicht nur gegen das Genre Oper und die Institution Theater stellt, sondern auch gegen die festgefahrenen Strukturen innerhalb des Theaterbetriebs, in dem Projekte lange im Voraus geplant, Kostüme geschneidert, Bühnenbilder gebaut werden und in dem ein neues Stück mindestens sechs Wochen geprobt wird.

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In „Zählen und Erzählen“ stellt der Komponist den Theaterschaffenden eine einzige große Aufgabe: Erfindet ein Stück und bringt es in nur einer Woche auf die Bühne! Folgende, nicht unmaßgeblich erschwerende Regeln sind dabei zu beachten: Am ersten Tag des Projektes erfinden zwölf Kinder im Alter zwischen acht und zwölf Jahren eine Geschichte. Jedes Kind kommt drei Mal an die Reihe und darf höchstens zwei Minuten lang erzählen. Die im Anschluss anlaufenden Produktionsprozesse laufen dann unter höchstem Zeitdruck ab: alle Werkstätten, Künstlerinnen und Künstler müssen gleichzeitig arbeiten und das „Musiktheater für Unerwachsene“ (so der Untertitel), das am Ende der Woche steht, muss ohne Gesang auskommen.

Kinder und die komische Welt

Für die Neuproduktion am Staatstheater Mainz, die im Rahmen der rheinland-pfälzischen Theatertage entstand, haben zwölf Kinder (jeweils drei aus Kaiserslautern, Koblenz, Trier und Mainz) eine Handlung erfunden, die den Titel trägt: „Wieso ist diese Welt so komisch?“ Natürlich kann von Klarheit und Stringenz auch hier keine Rede sein und die Regisseurin Cordula Däuper macht das einzig Richtige: Sie zeigt, wie Theater funktioniert, wie es gemacht wird, was alles dazu gehört, wie Illusion erzeugt wird, welche theatralen Mittel einer Bühne zur Verfügung stehen.

Die Geschichte um das Mädchen Anne, das an einem regnerischen Tag durch die Straßen von London spaziert, zwei merkwürdige Menschen trifft, zuletzt bei der englischen Königin zum Tee geladen wird und feststellt, dass sie selbst eine kleine Hexe ist, bietet reichlich Gelegenheit, einen Einblick in die Theaterarbeit zu geben. Und da zur Oper Sängerinnen und Sänger doch irgendwie dazugehören, auch wenn sie nicht singen dürfen, geben Nerea Elizaga Gómez, Verena Tönjes, Michael Dahmen und Richard Franke alles, was sie sonst können und was auch zur Oper gehört: Sie sprechen und tanzen, verkleiden sich, wechseln die Geschlechter, übernehmen Aufgaben von Statisten und Bühnenarbeitern mit großer Spielfreude. Und immer wieder wollen sie – ohne Erfolg – ins sängerische Kerngeschäft wechseln.

Ein Klaviertrio um den Pianisten und musikalischen Leiter Tobias Schwencke hat dafür die Musikgeschichte schamlos ausgeschlachtet. Von Georg Friedrich Händel bis Richard Clayderman reichen die Komponisten, von der Frühlingssonate bis zur Filmmusik die Kompositionen, die anzitiert werden, um der Musik ihr Recht zu verleihen, Stimmungen und Atmosphäre herzustellen. Gleichzeitig dienen die Instrumente aber auch dafür, Geräusche zu produzieren, die ganz explizit auf das Bühnengeschehen abgestimmt sind.

Illusionen lustvoll entzaubert

Die Inszenierung erzeugt Illusionen, zeigt aber zugleich, dass diese gemacht sind und stellt dafür die entsprechenden Theatermittel vor: Kunstschnee ist aus Papierschnipseln, künstlicher Nebel kommt aus der Dose, Glühbirnen dienen als Sternenhimmel. Schilder sind nicht blau, sondern als solche ausgezeichnet, Probentüren dienen als Haustüren. Und kein Kind stört sich dran.

Es ist eigentlich ein kleines Mainzer Theaterwunder, dass es gelingt, in 45 Minuten – denn so lange darf das Stück laut Kagel dauern – einen umfassenden und dabei ganz unpädagogischen Einblick in nahezu alle Prozesse im Theater von der Konzeption über die Disposition bis zur Produktion und Präsentation zu gewähren. Verantwortlich dafür waren neben Cordula Däuper in der Reihenfolge des Besetzungszettels: Pascal Seibicke (Bühne), Lisa Fütterer (Kostüme), Sabine Hilscher (Illustrationen), Dieter Wutzke (Licht) und natürlich die zwölf rheinland-pfälzischen Geschichtenerfinderinnen und -erfinder. Die Freude war bei Unerwachsenen und Erwachsenen im Publikum gleichermaßen groß.