Video, Sound, Laufsteg ins Parkett
Und tatsächlich machen Pucher und sein Team – Nina Peller (Bühne), Annabelle Witt (Kostüme), Christopher Uhe (Musik), Ute Schall und Hannes Francke (Video/Live-Video) und Oliver Porst (Licht) – in 80 Minuten aus dem Fragment um den alleingelassenen Außenseiter Woyzeck und die von ihm schließlich ermordete Marie eine große multimediale Performance.
Zunächst spricht ein animierter, auf den Vorhang projizierter Georg Büchner, er beklagt (im O-Ton seiner Streitschrift „Der Hessische Landbote“) die Privilegien der Reichen. Dann erscheint Woyzeck (Abdul Aziz Al Khayat) in seinem bunten Gewand (zwischen Arlequino-Gewand und Fantasie-Uniform) zunächst per Live-Video, dann auf der Bühne, die sich mit einem Laufsteg in die Mitte des Zuschauerraums erstreckt. Gezeigt wird denn auch eine durch Musik und Film- oder Lichteffekte verstärkte große Präsentation vom Schicksal Woyzecks und Maries (Tabea Buser). Sie hat ihren ersten Auftritt als Background-Sängerin des selbstgefälligen Selbstdarstellers Tambourmajor (Lennart Preining). Dann präsentiert sich auch Marie selbstbewusst auf dem Laufsteg dem Publikum, mit Worten aus Büchners „Dantons Tod“ über die Langeweile.
Musikalische Erweiterungen des Dramenfragments sind bereits etabliert: Robert Wilsons und Tom Waits‘ „Woyzeck“-Musical wird immer wieder gezeigt, ebenso Alban Bergs Oper. Das fast opernhafte oder musicalähnliche, groß Angelegte der Wiesbadener Inszenierung (in der Fassung von Stefan Pucher und Dramaturgin Hannah Stollmayer) zielt weniger auf das melodramatische Schicksal des Unterschichten-Paares, sondern vielmehr auf den ganzen Büchner: politische Ungerechtigkeit bei mental düsterem Zustand der Menschheit. Nach hinten schließt eine kalte Berglandschaft die Szenerie ab, davor bieten felsähnliche Podeste Auftrittsorte, das Bühnenspiel drängt aber ins Live-Video oder auf den Laufsteg im Parkett.
Multimediale Verschränkung statt Einfühlung
Zwar zeigt dieser „Woyzeck“ auch die Szenen mit sadistischem Arzt (Adi Hrustemović) und seltsamem Hauptmann (Christian Klischat), doch hat sie ihre Stärken nicht in der Darstellung einzelner Schicksale. Abdul Aziz Al Khayats Spiel des unterdrückten Erbsenessers in der Hauptrolle ist zunächst darstellerisch nicht so wirkungsvoll und psychologisch kaum motiviert; Woyzecks Horrorvision einer brennenden Welt bekommt beispielsweise erst durch die filmische Illustration Gewicht.
Insgesamt geht es Pucher um den ganzen Büchner und sein Menschenbild zwischen Fatalismus(-Brief) und Aufruf zur Revolution (im „Hessischen Landboten“). Mit Hilfe ausgefeilter, teils vorproduzierter Videos mit humanisierten, muskelbepackten Tieren und Live-Videos, mit fast durchgehendem Soundteppich aus bedrohlich wummernden Bässen und einzelnen Songs entsteht da eine gruselige Menschheitsshow. Die kompositorisch geschickte Verschränkung eines filmisch transportierten Chores wutbürgerlicher Masken mit dem Dialog zwischen Arzt, Hauptmann und Woyzeck ist nicht nur in seiner Wirkung beeindruckend, sondern deutet auch Fragen an zwischen möglichen Parallelen aus der Staatskritik Büchners und aktueller, rechtsradikaler Infragestellung der Bundesrepublik.
Ferne der Vergangenheit
Im Finale zwischen Marie und Woyzeck überwindet die verbalisierte Gegenwart der beiden Hauptdarsteller:innen – der Frau, die zum Spielen eines Femizid-Opfers nicht bereit ist und des aus Syrien stammenden Mannes, der sich rassistisch verunglimpft sieht – dann abschließend das Textfragmet „Woyzeck“. In einer Rap-Battle tauschen sie Argumente und persönliche Erfahrungen aus, gehen – ohne Mord – getrennt von der Bühne. Das letzte Wort hat der künstliche Büchner mit den Worten Woyzecks nach dessen Mord an Marie. Ist dies wirklich das letzte Wort?
Dieser „Woyzeck“ im Großen Haus bietet keinen Klassiker als Kammerspiel, aber effektvolles Schauspiel. Als kritische Auseinandersetzung mit dem hessischen Dichter setzt sie mit großem technischem Einsatz zeitgemäße Akzente. Offen bleibt die Frage, ob nicht ein gänzlich neues Drama mehr zu erzählen hätte und Bruchstellen des Zusammenlebens genauer beschreiben könnte als ein dekonstruierter Dichter aus der Vergangenheit.
Im Januarheft der DEUTSCHEN BÜHNE folgt ein ausführlicher Bericht über den Neustart am Staatstheater Wiesbaden – in allen Sparten. Hier unsere Kritik zu einer der ersten Premieren im Musiktheater, dem „Salon Strozzi“.
Im aktuellen Heft der jungen bühne gibt es Büchners „Woyzeck“ als Graphic Drama.