Foto: „Die Riesen“ vom Staatstheater Wiesbaden © Karl und Monika Forster
Text:Björn Hayer, am 13. Juni 2024
Am Hessischen Staatstheater Wiesbaden gelingt zum Ende der schwierigen Intendanz von Uwe Eric Laufenberg eine grandiose Schauspiel-Premiere: Luigi Pirandellos unvollendetes Alterswerk „Die Riesen vom Berge“ erweist sich als ein Stück der Stunde.
Ein Abend, an dem nichts fehlt: Konfetti, Bühnenrauch, Witz, Melancholie und reichlich Musik. Es ist, als würde dieses zuletzt so Finanz- und Führungsskandalen so gebeutelte Staatstheater Wiesbaden zum Ende der Ära Laufenberg noch einmal all seine Kräfte aufbringen, um zum Licht zu gelangen. Denn um letzteres geht es schließlich auch, nämlich um jenes der Scheinwerfer. Dafür wurde der Gräfin Ines (Klara Wördemann) eigens ein Stück von einem Dichter verfasst, der sich noch vor der Aufführung seiner „Alkestis“ umbrachte. Gemeinsam mit ihrer Truppe verschlägt es die Schauspielerin in ein Tal. Angekommen in einem ruinösen Haus, wo der Zauberer Cotrone (Matze Vogel) mit einer Kommune aus gesellschaftsfernen Traumtänzern seine Fantasien realisiert, will sie es um jeden Preis umsetzen.
Disparate Kunsphilosophien
Dass bei diesem Aufeinandertreffen zweier Kunstphilosophien – die eine Seite ringt um die Gunst des Publikums, die andere behauptet allein den Selbstzweck von Literatur und Bühne – Reibungsenergien entstehen, wird in Ingo Kerkhofs Inszenierung von Luigi Pirandellos „Die Riesen vom Berge“ rasch klar. Der Putz mag also von den Wänden blättern, belebt wird die Szenerie trotzdem. Vor allem mit Musik und Geschichten. Unter der Regie des dandyhaften Magiers wird mal die Story vom 101. Engel dargeboten, mal Edith Piafs „Je ne regrette rien“ gesungen. Seifenblasen steigen derweil durch den Raum, Luftballons zerplatzen.
Wo sich so viel Sehnsucht Bahn bricht, darf sodann das Absurde nicht fehlen. Ein ganzes Defilee kurioser Gestalten entfaltet sich vor uns. Man hebt Schilder mit Aufschriften wie „Britta, 28, sucht“, „sexuell ausgehungert“, „Früher war ich ein Mann“ oder einfach nur „leidet“ hoch, dazwischen hüpft eine Frau in Vogelkostüm über die Bühne oder trällert ein anderer Wandergeselle immer wieder den kindlichen Binnenrei „Ilse, Ilse, keiner willse“.
Fragen ans Fragment
Dazu wippen der Zauberer und die Erzählerin, gespielt von der auratischen Sibylle Weiser, deren Grazie gleich der Königin der Nacht alle Dunkelheit ereleuchtet, beständig vor und zurück, eben weil dieses Stück im Stück aus jeder zeitlichen Ordnung fällt, weil es auf der Stelle tritt. Schlimm? Keineswegs, schließlich geht es bei Theater gemäß der Aussage der Figuren stets um den Augenblick. Und noch viel mehr, allen voran die Frage nach Wahrheit und Fiktion durchdringt das erst nach Luigi Pirandellos Tod (1936) veröffentlichte Fragment. Ob die titelgebenden Giganten im geplanten, aber nie vollendeten, dritten Teil überhaupt aufgetreten wären? Wer weiß. Wer weiß überhaupt, wie viel Ehrlichkeit im Spiel steckt? Ob Tränen echt sind?
Am Ende wäscht sich die ganz in ihrer Alkestis aufgehende Gräfin endlos ihr geschminktes Gesicht über einem Wasserbottich. So wie sie offensichtlich zu einer unverstellten Wirklichkeit vordringen will, häutet sich gewissermaßen auch das Bühnenbild. Ein Vorhang fällt nach dem nächsten, bis eine Gebirgslandschaft zum Vorschein kommt. Allerdings ist sie nur gemalt, also wiederum ein Trick.
Was uns dieses rätselhafte, sich gänzlich ins Surreale ergehende Werk sagen will? Selbstironisch bekundet der Magier dazu: „Meine Situation ist völlig lächerlich. Ich muss ein Stück inszenieren, von dem ich nichts verstehe“. Hängen bleibt indessen, dass jede Realität wohl immer auf einer Konstruktion beruht und dass wir alle wohl nur (über-)leben können, weil wir über einen unauslotbaren Schatz an Fantasie verfügen. Theater ist somit alles und überall. Mehr der Worte braucht es bei dieser hinreißenden Inszenierung kaum. Eigentlich nur diese: schön, schön, schön!