Foto: „Memory Of Mankind” ist ein Theater ohne Bühne. © Navid Fayaz
Text:Lucie Mohme, am 7. Juni 2024
Für „Memory of Mankind“ hat der schwedische Regisseur Marcus Lindeen dokumentarisches Material mit Fiktivem kombiniert. Der Plot: In einem sicheren Salzbergwerk soll für nachfolgende Zivilisationen ein Archiv unserer Vergangenheit angelegt werden. Aber was gehört dort hinein?
Eigebrannt auf handelsüblichen Badezimmerfliesen ist eine Infotafel über den längst ausgestorbenen Dodo, eine weitere Tafel informiert über „Gangstarap“. Verewigt wurde eine hochkomplexe Formel, ein ungelöstes Problem der Mathematik, und auf der nächsten Keramikkachel: Eine Liebesgeschichte. Die Freie Republik Wien (ausgerufen im Rahmen der Wiener Festwochen) lädt das Stück „Memory of Mankind“ der compagnie Wild Minds ein. Die mit etlichen Theatern und Theaterfestivals koproduzierte Inszenierung hatte bereits im Mai diesen Jahres in Brüssel im Rahmen des Kunstfestivaldesarts Uraufführung.
Knapp lässt sich das Archiv Namens „Memory of Mankind“ vielleicht als Lexikon aus Keramik plus individuellen persönlichen Geschichten beschreiben. Die Überlegung für dieses Projekt, das in Realität seit 2012 von Martin Kunze im Salzbergwerk Hallstatt begonnen wurde, ist aus dem nihilistisch realistischen Gedanken der totalen Annihilation der Menschheit entstanden. In dem vor Klimakatastrophen oder Atomvernichtungswaffen sicheren Salzbergwerk soll einer neuen Zivilisation (sei sie menschlich oder außerirdisch) in Form dieses Archivs die Vergangenheit offenbart werden.
Wie kann und darf erinnert werden?
Wer darf entscheiden, was verewigt wird und auf welche Weise? Im Gespräch zeichnen vier Schauspieler:innen Diskurse über Erinnerung, historische archäologische Forschungsmethoden und emotionale Geschichten nach. Über die Erzählung eines Paares, in dem der Partner immer wieder in Episoden Amnesie erfährt und die Partnerin ihm immer wieder von neuem erklärt, wer er ist, entsteht die Metapher für das Erinnerungsarchiv. Genauso funktioniert das Keramikarchiv: Es wird eine Menschheit konstruiert, die aus einer bestimmten Momentaufnahme besteht, aus zufällig ausgewählten Momenten, subjektiv selektierten Informationen oder Bildern.
Visuell wird das auf Französisch von Marcus Lindeen und Marianne Ségol inszenierte Stück mit Untertitel auf Deutsch und Englisch simultan begleitet. Auf selbiger Leinwand werden passend archäologische Funde oder in den Übergangs-Blacks Sequenzen beispielsweise ein Video einer großen Explosion gezeigt. Das Publikum sitzt derweil auf Tribünen, die in der Mitte der Spielfläche angrenzen, auf dessen Rand die Schauspielenden während des Spiels Platz nehmen, aufstehen und umhergehen. Fast sinnbildlich, mit den Keramikplatten in länglichen Kisten in der Mitte, wird gleichzeitig die Illusion eines historischen Amphitheaters und einer ägyptischen Grabstätte erzeugt.
Durch Keramikplatten in länglichen Kisten in der Mitte entsteht die Illusion eines historischen Amphitheaters und einer ägyptischen Grabstätte. Foto: Navid Fayaz
Queere Perspektiven etablieren
Diskursiven Kontrast bietet die Erzählung des queeren Archäologieforschers, der zugleich nach Artefakten der queeren Geschichte, beispielsweise in Ägypten, forscht. Durch erhaltene Zivilisationsfunde werden immer wieder Interpretationen konstruiert, die abermals queere Perspektiven ausschließen. Diese Marginalisierung entsteht vor allem durch die anhaltende Übermacht des heteronormativen weißen Mannes. Sogleich wirkt auch die Kritik an der Leitung des Archivs, die durch eine weißen heteronormative Perspektive queere oder marginalisierte Erinnerung filtert, gar ausschließt.
Zusätzlich obliegt es ihm zu entscheiden, was gut und was ist böse ist. Sollen beide Entitäten überhaupt in dem Erinnerungsarchiv vertreten sein? Lediglich Kinderpornographie und Nazipropaganda werden vom Archiv ausgeschlossen. Bei der Abbiegung des Gesprächs in diese Richtung, die sich mit der Verarbeitung und essenziellen Erinnerung mit der Geschichte des zweiten Weltkriegs befasst, verweilt der Diskurs leider nur kurz.
Exemplarische Debatte der Freien Republik Wien
Insgesamt baut die Inszenierung überwiegend auf emotionale und eher zum Schmunzeln verleitende Momente, wenngleich auch schmerzhafte Momente, wie die AIDS-Epidemie thematisiert werden. Gerade bei einem Projekt, das in Österreich verortet ist, hätte der Schwenker in Richtung der Erinnerungskultur der Schoa dem Stück eine weitere Ebene verliehen. Dennoch ist die Inszenierung rechtmäßig Teil der Freien Republik Wien, die sich als entgrenzte Moderne, als Ort der Debatten, Meinungsfreiheit und sozialen Bewegung versteht.