Foto: Bo Skovhus, Vera-Lotte Boecker und Maxime Pascal in "Lulu" am Theater an der Wien © Monika Rittershaus
Text:Klaus Kalchschmid, am 28. Mai 2023
Die Oper „Lulu“ verlangt einen besonderen Umgang, weil Alban Berg sie nicht vollendet hat. Am Theater an der Wien hat Choreografin Marlene Monteiro Freitas einen eigenen Zugang gefunden. Leider lässt die Inszenierung viele Fragen offen, aber die Musik begeistert.
Alban Berg konnte seine „Lulu“ nicht fertigstellen, weil er den lukrativen Auftrag erfüllen musste, ein Violinkonzert zu komponieren und er kurz danach mit gerade mal 50 Jahren an einer Blutvergiftung starb. Allerdings waren zwei Akte und der dritte bis auf wenige Takte im Particell vollendet. Er war also musikalisch in seiner Essenz zusammengefasst auf wenige Systeme, wenngleich nur mit wenigen Angaben zur genauen Instrumentierung. Seit der „Herstellung“ von Friedrich Cerha im Jahr 1979 hat es die unterschiedlichsten Versuche gegeben, den Akt schlanker zu instrumentieren, gar eine variable Modul-Fassung zu erstellen wie Eberhard Kloke. 2019 setzte Heusinger in Bremen mit Erfolg verstärkt elektronische Instrumente ein. Mittlerweile ist das Particell als Faksimile zugänglich und ermöglicht einen direkten Vergleich des Originals mit den jeweiligen Vervollständigungen oder „Fertigstellungen“.
Im Programmheft zur Aufführung am Theater an der Wien suggeriert Dirigent Maxime Pascal, Berg hätte die dezidiert geplante symmetrische Form mit Aufstieg und Fall Lulus rund um eine veritable Spiegelachse in der Mitte des zweiten Akts mit ihrer Verhaftung und Befreiung aus dem Gefängnis nicht (fertig-)komponieren können. Und er betont mit einem Wortspiel, dass die fragmentarische Version – mit Variationen und Adagio (der instrumentalen Schlussszene der Oper), wie sie Berg für eine Suite aus der Oper instrumentierte – nur noch das Erleben des „zerbrochenen Spiegels“ erlaube.
Die Oper wie bei der posthumen Uraufführung 1937 in einer Fassung zu spielen, die Bergs Intentionen zuwiderläuft, ist freilich eine nicht zwangsläufige Entscheidung. Sie ermöglicht es aber zu behaupten, dass Lulus weiteres Schicksal offenbleiben muss, sie also, was man heute nicht mehr erzählen möchte, keineswegs als Prostituierte in London das Opfer eines Lustmörders wird.
Theater zwischen den Künsten
Paradoxerweise kommt die Produktion der Choreografin Marlene Monteiro Freitas, die in Wien zum ersten Mal bei einer Oper Regie führt, in dieser Schlussszene ganz zu sich. Sie gibt musikalisch, wenn auch ohne gesungenen Text, exakt den intensiven Dialog zwischen Lulu und ihrem letzten Freier, Jack the Ripper, wieder, der vom selben Sänger wie Doktor Schön dargestellt wird. Dabei gibt es für eine Viertelstunde nur einen alten Mann zu sehen, der das weiße Kostüm einer knienden, aber trotz starrer Maske sehr lebendigen Puppe an den Extremitäten pantomimisch zusammennäht.
Das rührt zutiefst und besitzt einen großen Hintersinn, denn dieser Mann könnte Schigolch, Lulus mutmaßlicher Vater sein. Oder doch Doktor Schön, der einzige Mann, den sie wirklich geliebt hat, seit er sie minderjährig aus der Gosse holte. Dieses zärtlich nähende Kümmern, nimmt Bezug darauf, dass alle Figuren an diesem Abend unfertige schwarze Kleidung tragen, deren grobe weiße Abnäher zu sehen sind und die so oftmals die Ärmel abstreifen oder ungewollt sie schützenden Stoff verlieren.
So wird die „Inszenierung“, die fast durchweg auf dezidierte Personenregie verzichtet, allzu spät doch noch beziehungsreich rund. Aber sie fügt, wie Dramaturg Armin Kerber im Programmheft erläutern muss, „mit ihren acht Performer:innen den beiden Vektoren Partitur und Libretto einen dritten Vektor“ hinzu, „der manchmal mit der Musik, manchmal mit der Story verschmilzt“. An anderer Stelle betont er flapsig angesichts vorangegangener Projekte der Choreografin, die vielfach bei den Wiener Festwochen zu sehen waren: „Wer den Stoff nicht kennt, sieht einfach eine irre intensive und wahnsinnig komplexe Choreografie, deren innere Spannungsbögen einen gefangen nehmen.“
Dass das in einer Oper, bei der hochkomplexe (Zwölf-Ton-)Musik das Geschehen auch jenseits des gesungenen Texts dezidiert deutet, nicht so einfach ist, beweist der Abend in Wien, den die acht Performer:innen mit mehr oder minder abstrakten, manchmal auch sehr konkreten und immer sehr kleinteiligen Aktionen bestimmen: „An die hundert Musiker:innen, Sänger:innen und Tänzer:innen performen gemeinsam, alles ist in Bewegung und keine Kunst isoliert von den anderen Künsten“, verspricht vollmundig ein Porträt von Theresa Gindlstrasser in einer Sonderausgabe des „Falter“.
Bühne mit Slapstick-Qualitäten
Der Ort dafür trägt Züge eines Umkleideraums im Fitnessstudio. Zumal weiße Frottee-Handtücher immer stärker dominieren. Die breite Einheitsbühne könnte aber auch das Deck eines Schiffs sein (es gibt Feuerlöscher und einen Rettungsring). Oder ein Sportplatz, denn Maxime Pascal dirigiert das erhöht auf der Hinterbühne sitzende, ganz in weiße Hemden gekleidete Orchester wie auf einem Schiedsrichter-Turm oder im Schwimmbad (Bühne: Yannick Fouassier, Marlene Monteiro Freitas).
Das hat viel von Slapstick im Stummfilm, zumal wild grimassiert wird, aber auch Einiges von Zirkuswelten. Jede konkrete Situation beantwortet Monteiro Freitas mit einer anderen Setzung: So wird zu Beginn kein Porträt von Lulu gemalt, sondern die Protagonist:innen sitzen wie Schiedsrichter an der Seite und natürlich wird Doktor Schön nicht realistisch erschossen. Requisiten gibt es sowieso keine, außer ein seltsam phallisches Gebilde, das denn auch acht Performer*innen – mit den nackten Fußsohlen zum Publikum gerichtet sitzend – in ihrem Schoss erzittern lassen, während Alwa die Schenkel Lulus inbrünstig preist. Das ist einer der ganz raren Momente, in denen der Bewegungschor auf eine dezidierte Art mit dem eigentlichen Geschehen auf der Bühne korrespondiert, während er sonst beziehungslos als eigene Ebene abläuft und manchmal einfach nur stört.
Was Orchester und singende Protagonisten angeht, lässt der Abend freilich keine Wünsche offen. Dass das ORF Radio-Symphonieorchester Wien erhöht auf der Bühne sitzt, hat eine bestechende Wirkung, denn man hört nicht nur viele Details der oft kammermusikalischen Partitur, auch große symphonische Wirkungen kommen großartig zur Geltung wie etwa die beiden üppig instrumentierten Stücke der „Symphonischen Stücke aus Lulu“, die man sich schöner und romantisch geprägter nicht vorstellen kann.
Grandioses Ensemble in Wien
Auch die Besetzung überzeugt bis in die kleinsten Partien: angefangen bei Vera-Lotte Boecker, die leider nur einen weiblichen Jedermann zu spielen hat und deren so beweglicher, schlanker Sopran enorm an Gehalt gewonnen hat, was leider anfangs mit Einbußen an der Leichtigkeit der Tongebung einhergeht. Doch mit den Anforderungen der Partitur wächst auch Boecker über sich hinaus, zumal sie mit Bo Skovhus einen charismatischen Vertreter des Doktor Schön an der Seite hat, der sich die Komplexität dieses Charakters immer mehr zu eigen gemacht hat. „Gewaltmensch“ nennt ihn Berg, aber er ist auch Getriebener, der für Lulu die widerstrebendsten Gefühle hegt, sie ausnutzt und in höchstem Maße seelisch wie sexuell von ihr abhängig ist.
Wenn mal keine Performer auf der Bühne sind und Boecker links, Skovhus rechts neben dem Orchester weit voneinander entfernt stehen und im doppelten Sinne „über“ das Orchester kommuniziert. Dann bekommt der Abend eine ablenkungsfreie Intensität, die er leider oft vermissen lässt, weil selten ein gleichberechtigt sich ergänzendes Musik-Theater stattfindet. Auch die sogenannte „Monoritmica“, in der Doktor Schön den Maler (Cameron Becker) über die Vergangenheit Lulus aufklärt und den jungen Ehemann immer mehr in die Verzweiflung (bis zum Suizid) treibt, intensiviert sich zugleich musikalisch konsequent, wie die beiden Männer zunehmend manisch umeinander tänzeln. Davon hätte man von einer genuinen Choreografin gerne mehr gesehen!
Wie jeder Alwa, Sohn Schöns und ebenfalls Lulu verfallen, braucht Tenor Edgaras Montvidas etwas, bis er sich vokal und darstellerisch behaupten kann. Obwohl Berg sich mit diesem Charakter besonders identifizierte und aus dem Dichter bei Frank Wedekind einen Komponisten machte, der als eigene Oper den Beginn von Bergs „Wozzeck“ zitiert, und ihm durchaus schwelgerische Musik komponierte, bleibt die Partie rein sängerisch undankbar, was für diesen zerquälten jungen Mann aber vielleicht genau passend ist.
Musikalisch überzeugender Abend
Bassbariton Martin Summer punktet schon im Prolog als Tierbändiger und gibt dem Athleten später eine vokal wie körperlich große Präsenz. Tenor Paul Kaufmann könnte optisch wie musikalisch sein kleiner Bruder sein und macht aus zwei kleinen Rollen (Prinz, Kammerdiener) fulminante Kabinettstücke eines genuinen Sängerdarstellers.
Kurt Rydl ist mit seinen 75 Jahren vielleicht genau im richtigen Alter für den bärbeißigen, asthma-geplagten Schigolch, der auch mal in dunklen Sprechgesang verfallen darf. Die wunderbare Schwedin Anne Sofie von Otter ist als lesbische Gräfin Geschwitz zwar darstellerisch wie gewohnt ungemein präsent, vokal aber doch jenseits des Zenits ihres einst so aufregend vielschichtigen Mezzosoprans. Doch das tut der musikalischen Kraft dieses Abends jenseits aller szenischen Fragwürdigkeit keinen Abbruch.