Foto: Szene mit Sonya Yoncheva (Médée) und Ensemble
© Bernd Uhlig
Text:Roland H. Dippel, am 27. April 2020
Entlarvung fatal: Zu Beginn sieht man mit Großaufnahme in den Orchestergraben, was man im Theater nur von Plätzen auf den Rängen wahrnimmt. Das trägt hier kaum bei zu jener steilen Erregungs- und Erschütterungskurve, die Luigi Cherubinis Oper aus dem Jahr 1797 haben sollte. Daniel Barenboims müde Zeichengebung scheint den starr bis stur auf die Noten blickenden Musikern der präzisen Staatskapelle Berlin kaum Impulse zu entlocken. Kantige und voll tönende Akzente liefert das Orchester für dieses gewaltige Opus an der epochalen Wende zwischen Tragédie lyrique und bürgerlicher Oper, dem trotz inzwischen regelmäßiger Reaktivierungen der französischen Originalfassung mit Dialogen noch immer das Attribut des Maria-Callas-Kultstücks anhaftet.
An der Staatsoper Unter den Linden stößt sich Médée am Ende den Dolch in den Unterleib. Weder verbrennt sie wie im Libretto von François-Benoît Hoffman noch hebt sie im Drachenwagen ab zur nächsten Station ihres von Grausamkeiten und Leidenschaft getriebenen Daseins. Selbst als sich Barenboim in der vom Publikum heftig akklamierten zweiten Stückhälfte steigert, wird aus „Médée“ kein sonderlich telegener Soundtrack. Ausgedehnte Flächen des Hochzeitschors und des langen Rezitativs der Médée am Beginn des Schlussaktes bleiben über Minuten im gleichen Gestus. „Médée“ ist nicht „Carmen“, die (fast) immer wirkt: Cherubinis eher statuarische und undynamische Musik besticht bei glückender Regie mehr durch das Meißeln an den Affekten als durch akustisches Ballungsmaterial mit melodramatischem oder suggestiv rhythmischem Verlauf.
Der Inszenierung von Andrea Breth kommen die vielen Detaileinstellungen der Kamera stellenweise zugute. Vor allem die von Martin Zehetgruber in den Lagerraum eines Repräsentationsbaus verlegten Szenen des tödlichen Endes einer Ehe geraten bezwingend, weil die Regisseurin das optimale szenische Potenzial ihrer Sänger packen konnte. Im Filmgenre gesprochen: Breth verschiebt das Sujet vom Genre des monumentalen Antikenfilms in einen Katastrophenfilm und Psychothriller. Aus der Priesterkönigin Medea in Pasolinis Spielfilm, für den Maria Callas die Figur und ihren eigenen Tragödinnen-Nimbus reinkarnierte, wird die Schamanin Médée. Jason, der Flüchtling mit Heirats- und Aufstiegschancen, schickt seine abgelegte Frau in die seelische und soziale Wüste, will aber die Kinder.
Spannend ist in dieser Inszenierung, wie sich der Blick auf Jason im Verlauf wandeln muss. Dieser – ein geckiger Womanizer – händelt lässig die ihn ablehnende Dircé (Elsa Dreisig in Stimme und Typ ideal) und hat auf halber Flamme noch ein intimes Techtel mit der Kinderaufsicht. Erst später wird klar, woher der attraktive Beau seine suggestiven, ja manipulativen Fähigkeiten hat, die er im fliederfarbenen Hochzeitsanzug nach Kräften ausreizt. Dafür fand er in der fremdartigen Médeé die willfährige Lehrerin. Blicke und Berührungen in den Duett- und Arienduellen, in denen Médée und Jason mit von Breth kühl entwickelter Plausibilität zerfleischt, werden für opernerfahrene Zuschauer zu Höhepunkten.
Médée argumentiert und kommuniziert nicht nur im Gespräch mit Jason, den sie zurückgewinnen will, mit Worten, Tönen und Gesten. Eine Hexe? Dafür singt Sonya Yoncheva zu schlackenlos, zu vibratoarm, zu makellos und auch zu erotikfrei. Warum klingt ihre Stimme so klar und bei allem Farbreichtum so rationalistisch? Den Regierungschef Créon (Iain Paterson) macht sich die Schamanin geschmeidig. Grenzen zwischen echtem Wollen, Manipulation und Irritationen fließen. Charles Castronovo findet als öliger Opportunist und ins Bodenlose stürzender Jason zu einem in Nähe der Kameraaugen packend angemessenen Rollenporträt. Ungerecht: Die prachtvoll singende und starke Marina Prudenskaya als schwarz verschleierte Néris wird durch die Kamera zur Nicht-Figur.
Auch die Kostüme von Carla Teti zeigen, dass die Fassade sitzt, aber die Gegenwartsgesellschaft im emotionalen Dauerfrost erstarrt und der charismatische Lack von den heiligen Symbolen längst abgeblättert ist. Schon für das Erleben im Theater ist Cherubinis „Médée“ ein zwar packendes, doch auch dramatisch wie musikalisch äußerst anspruchsvolles Stück. Das gilt umso mehr für diese gestreamte Aufführung, in der es hier nicht zu idealen telegenen Balance kommen kann, weil die Kameraführung keine spezifischen Verfahren für Cherubinis Musikdramaturgie zu entwickeln vermochte. Perspektivsprünge entwickeln kaum eine ebenbürtige Spannung wie die fahrende Drehbühne in der Staatsoper Unter den Linden beim flammenden Inferno.
Andreas Breth erzählt mit dem „Medea“-Stoff auch von einer Gesellschaft, die Nutzen und Gewinn aus verarbeiteten Symbolträgern ziehen will, aber das Band zwischen sich und den dafür notwendigen Ressourcen leugnet. „Médée“ wird also auch zur grausamen Fiktion von der unerwarteten und nicht bewältigten Wiederkehr dessen, was man überwunden glaubte. Die Mittel der Videoaufzeichnung kommen dabei leider nicht über dokumentierende Haltung hinaus. Es wäre sehr interessant, wie sich im Vergleich die Aufzeichnung eines vieldeutigen Kammerspiel wie Claus Guths Inszenierung von Brittens „The turn of the screw” aus dem Repertoire der Lindenoper im Vergleich machen würde.