Foto: Sebastian Graf, Julia Schubert und Frank Genser in "Welt am Draht". © Birgit Hupfeld
Text:Andreas Falentin, am 3. Juni 2013
Rainer Werner Fassbinders TV-Zweiteiler „Welt am Draht“ von 1974 baut eine Alptraumvision technologischen Fortschritts. Zur Erforschung der Zukunft – und vor allem ihrer materiellen Erfordernisse und ökonomischen Perspektiven – wird eine fortschrittliche Welt im Kleinen simuliert. Der Projektleiter Fred Stiller, irritiert durch den ungeklärten Tod seines Vorgängers und das Verschwinden eines Kollegen, an den sich plötzlich niemand mehr erinnern kann, findet schließlich heraus, dass auch seine eigene „Welt“ nur eine Simulation ist und wird auf eine andere Realitätsebene befördert.
Claudia Bauer begegnet Fassbinders Geniestreich mit genuin theatralischen Mitteln. Keine Filme diesmal, wie so oft in Dortmund, nicht einmal Projektionen. „Simulacron“, um das sich alles dreht, ist ein großer Kasten, in dem die Schauspieler mit Pappmasken vor dem Gesicht die simulierte Welt als eine Art Kasperltheater aufführen. Kostüme, Perücken und Requisiten verorten das Geschehen mit ironischem Charme tatsächlich in den 70erJahren, treiben es oft ins Comichafte, betrachten es aber sehr bewusst von heute. Der Programmierer Walfang etwa, im Film bei Günther Lamprecht ganz integrer, kleinbürgerlicher Angestellter, wird bei Björn Gabriel zum freakigen Computer-Nerd im Blümchenhemd. Fast augenzwinkernd spielt die Inszenierung mit dem Wissensstand des Zuschauers. So erscheint die Gestik der Figuren extrem klischiert, dazu oft abgehackt, hält das Geschehen manchmal an und wiederholt den letzten Moment wie ein hängengebliebener Tonarm auf einem alten Plattenspieler. Die Figuren wanken umher wie ferngesteuerte Roboter, umspielt vom sich fast heimlich ins Bewusstsein schleichenden, psychedelisch orientierten Soundtrack von Martin Juhls.
Dennoch wird die Geschichte hervorragend und sehr rationell vermittelt. Man versteht die Nöte, Irritationen und Niederträchtigkeiten der Figuren und bewundert vor allem den ungeheuren Entwurf.
Wie bei (fast) allen großen Geschichten der Postmoderne franst die Erzählung im letzten Drittel aus. Claudia Bauer und das fantastische, von Frank Gensers jugendlich intellektuellem Stiller angeführte Ensemble haben dem Abend derart deutlich die Struktur einer Vertikalspirale aufgeprägt, dass eine abschließende Zuspitzung schwer fällt. Immerhin erfindet Claudia Bauer ein Schaufensterpuppentableau, womit sie das Geschehen ins Statische überführen kann ohne die selbst gewählte 70er-Ästhetik zu verlassen, und Bernd Schneider räumt seine ohnehin leere Bühne noch mehr auf. Die Wände fahren hoch. Man sieht die Bühnentechnik. Die, zumindest vorläufige, „wirkliche“ Realität, in der Stiller schließlich ankommt, ist das Theater selbst.
Die gelungene Premiere ist der Vorbote des „Cyber-Leiber-Festivals“, das sich vom 6. – 9. Juni am Dortmunder Theater ereignen wird. Einerseits Werkschau – das Theater zeigt gebündelt seine aktuellen Inszenierungen, die sich auf verschiedensten Ebenen mit virtuellen Welten befassen –, will das Festival auch diskursiv die eigene Arbeit hinterfragen, in möglichst lebendigem Kontakt mit dem Publikum. Neben Talkrunden und Lesungen umfasst das Beiprogramm Ausstellungen, Partys und Konzerte in extra auf dem Theatergelände designten Locations wie „Physical Garden“ oder „Hackerspace“.