Foto: Wie viel Pop verträgt "Faust"? Das lotet das Stuttgarter Ensemble in seinem Figurentheater-Zugang aus. © Sabine Ronge
Text:Manfred Jahnke, am 19. Juli 2019
Im Figurentheater kann der „Faust“-Stoff auf eine lange Tradition zurückblicken, die im deutschen Raum schon vor Goethe beginnt, sich an dem dramaturgischen Modell Marlowes orientierte und voll auf Action, Feuerzauber und den Hanswurst setzte. Erst im „reformierten“ Figurenspiel zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird dann auch „Faust I“ in Szene gesetzt – so muss sich jede neue Aneignung des Stoffes mit dieser Tradition reiben. Das kann Belastung wie Befreiung zugleich sein. Die Figurenspieler Anne Brüssau und Marius Kob sowie der Musiker Marius Alsleben nähern sich unter der Regie von Iris Keller ihrem Stoff auf eine Brecht‘sche Weise, in dem sie Fragen stellen wie: Was habe ich mit Faust zu tun? Welche Geschichte steht eigentlich im Mittelpunkt, die vom Gelehrten Faust oder die von Gretchen? Während des Spiels reflektiert das Trio immer wieder ihr Tun, bis zum Ende, wenn Gretchen feststellt, dass es wieder nicht ihre Geschichte geworden ist. Anne Brüssau, über die sich Science-Fiction-Lichtschwerter kreuzen, betont im Spiel, dass sie mit dem Handeln ihrer Figur nicht einverstanden ist. Sie bezieht zuvor schon in fünf Forderungssätzen „Ich hab ein Recht auf…“ eine klare Position.
Auf der von Oliver Klauser geschaffenen Bühne, die links von einer „Musikbar“ dominiert wird, schieben die Spieler vier Wände, eine weißbespannte, zwei schwarze und eine durchsichtige zu immer neuen Räumen zusammen. Darüber hinaus werden sie zu Spielleisten für die drei Handpuppen – Faust, Pudel, Gretchen -, wobei die Hände der Spieler auch zu Händen der Figuren werden. Die Puppen haben realistische Köpfe mit sympathischen Gesichtszügen (Bau: Oliver Klauser), die in der Animation wunderbar lebendig werden. Mit großer Präzision springt Marius Kob dabei nicht nur zwischen Faust und Pudel (Mephisto) als Puppen hin und her, sondern auch zwischen Figuren- und Menschendarstellung. Auch andere Mittel des Figurentheaters kommen zum Einsatz, ein Eimer als Objekt wird so zur Verkörperung von Valentin, dem Bruder Gretchens, den Faust erschlägt. Viele Szenen werden in unterschiedlichen farblichen Abstufungen auch als Schattentheater vorgeführt. Die vielen Mittel ergänzen einander und werden darüber hinaus von der Musik zusammengehalten. Marius Alsleben hat nicht nur drei Gretchenlieder wie den „Thule“-Song vertont und mit sehr unterschiedlichen Beats und Präsentationsformen umgesetzt, sondern unterstützt mit seinen Arrangements entscheidend Tempo und Dramatik des Spiels. Was bei einer Spielweise um so gewichtiger wird, die haarscharf auf der Linie zwischen Kabarett und ernsthaftem Drama balanciert. Diese Gratwanderung gelingt dem Ensemble grandios: Da gibt es keinen Absturz.
Die Balance wird auch durch die Textfassung (Dramaturgie: Stefanie Oberhoff) herausgefordert. Denn natürlich will man auch mit „Puppen, Pop & Pudel“ – so der Untertitel – doch die Geschichte von „Faust I“ erzählen, von der Studierstube über den Osterspaziergang, der Spaziergang bei Frau Marthe in Andeutungen, die Vergiftung der Mutter bis hin zum Kerker mit allen einschlägigen Zitaten. Auch, wenn der Plot auf die Dreierbeziehung Faust, Gretchen und Pudel konzentriert wird, wobei der Pudel im letzten Viertel fast verschwindet, präsentiert sich der ganze Faust‘sche Kosmos; wenn auch holzschnittartig, manchmal nur als Spot. Dadurch, dass die Handlung ständig von den Spielern reflektiert wird, wird nicht nur der Abstand zwischen dem Gestern und dem Heute zum Thema, sondern zugleich auch überprüft, wie viel Pop ein Klassiker verträgt. Der Zugriff von Iris Keller ist erfrischend und unterhaltsam. Der Zuschauer wird mit der Frage konfrontiert: Was bedeutet denn Faust heute für mich? Wenn das keine gute Frage ist!