Der erste optische Eindruck ist der sich, von einem Sturm, blähende rote Vorhang. Zufall, an einem Tag mit Unwetterwarnung? Als sich dieser Vorhang dann öffnet, sehen wir einen halbrunden Bühnenraum, eingefasst von einem weiteren, dunkelgrauen seidig-glänzenden Vorhang, der sich im Wind bewegt und, den Tänzern entgegenwirkend, den Raum verändert und eigene Formen bildet. Tänzer und Tänzerinnen kommen an die Rampe gelaufen und nehmen Positionen des klassischen Balletts ein, als würden sie diese Haltungen präsentieren, fast als eine Art kleine Einführung ins klassische Ballett. Die Kostüme sind transparente Trikots, die bei einigen Tänzer:innen den ganzen Körper bedecken und doch jeden Quadratzentimeter davon sichtbar machen. Kleine Volants an den Trikots nehmen den Wind auf und suggerieren Leichtigkeit, ein wichtiges Element beim klassischen Tanz: In jeder Bewegung steckt unfassbar viel Training und Arbeit, wovon der Zuschauer aber nichts merken darf.
Eingefrorene Geschichten
Siegals Choreografie ist statisch, skulptural und gleichzeitig voller Unruhe, Veränderung, Korrektur und Irritation. Einerseits ist es ein ästhetischer Genuss, die Präzision in den Bewegungen und Positionen zu sehen und die Perfektion der Körper, die kleinste Veränderungen vornehmen und so ihren Ausdruck variieren. Andererseits möchte man manchmal aufstehen und (natürlich unsichtbar) auf die Bühne laufen, um zu sagen: Nein, nicht einfrieren, nicht unterbrechen, nicht abgehen! Indem Siegal die Bewegungssprache des Balletts geradezu seziert, ausstellt und vergrößert, wird immer wieder der Fluss, die Weichheit, die Transparenz der Bewegungen verhindert. Die Augen folgen einem Tänzer oder einer Tänzerin und sehen der Geschichte zu, die der tanzende Körper erzählt, aber im nächsten Moment bricht diese Geschichte ab, die Person friert ein und nimmt eine statuenhafte Position ein. Wir fühlen uns ein bisschen so, als hätten wir angefangen, eine Geschichte zu lesen und, als sie gerade spannend wird, sehen wir, dass jemand die letzten Seiten aus dem Buch gerissen hat. Zum Glück werden wir schnell entschädigt, da ein anderer Tänzer die Position einnimmt und mit einer anderen, manchmal ähnlichen Bewegungsabfolge unsere angefangene Geschichte fortsetzt.
Vielleicht ist das ja genau das, was mit dem heutigen Ballett passiert: Es ist seit 500 Jahren ohne Unterbrechung da, aber die Menschen, die tanzen, die die Tradition der Bewegungen fortführen, haben über die Zeit hinweg gewechselt, sich gegenseitig ersetzt. Es sind nicht mehr die vom Hof Ludwig des Vierzehnten. Es sind Menschen jeder ethnischen Zugehörigkeit, verschiedener Gender und unterschiedlicher sexueller Orientierung. Das klassische Ballett ist nicht mehr das von vor 500 Jahren. Aber es spricht immer noch die Sprache einer anderen Zeit, zeigt immer wieder Richtung Vergangenheit und erzählt: Guckt mal, das haben wir von damals mitgebracht, das haben wir erhalten, weil wir es heute nicht anders oder besser sagen können oder weil wir es einfach so schön fanden.
Inszenierung, Untersuchung, wissenschaftliche Arbeit
Siegals „Xerrox Vol. 2“ ist eine ästhetisch perfekte Inszenierung, ähnelt aber auch einer Untersuchung, einer Arbeit im Labor, wo wir die Tänzer:innen unter dem Mikroskop beobachten und auch ein bisschen einer wissenschaftlichen Arbeit über die Zeichensprache des Balletts. Es macht uns Zuschauenden zu Beobachtenden, es spricht unsern Geist mehr an als unser Gefühl. Wir gehen aus dem Theater mit Bildern im Kopf, die wir zuordnen wollen. Gehören sie in die Vergangenheit? Haben sie etwas mit mir heute zu tun? Werden sie morgen und in hundert Jahren anders wahrgenommen werden?
Mit diesen Fragen gelingt es Siegal und seinem Ensemble, in den Köpfen der Zuschauenden etwas umzustossen oder zumindest zu verschieben und uns unsere kulturelle Identität ein Stück bewusster erleben zu lassen.