Foto: Yuka Yanagihara, Julia Berke und Michael Wilhelmi spüren der möglichen Identität von Medeas Tochter nach © Rolf Arnold
Text:Tobias Prüwer, am 7. März 2020
Blut im Schritt, Blut im Schnee. Eine abgeschnittene Zunge, Haare und Fell. Archaische Motive gibt der weiße Kubus preis, projiziert werden sie mit moderner Handykameratechnik. Um verschiedenste Projektionen kreist „Eriopis“, der Stoff selbst ist eine Projektion aus mythischer Vergangenheit in die Gegenwart. Er folgt der Frage, was denn wäre, wenn Medea eine Tochter hinterlassen hätte. Würde diese heranwachsende Frau heute leben, was müsste sie erfahren und ertragen? Und hätte sie es leichter als ihre Mutter, in der alle nur das Fremde und Andere sahen? An diesem Ariadnefaden entlang entwickelt sich am Schauspiel Leipzig ein wilder Assoziationsreigen aus Text, Musik und Gesang um Gewalt und Zuschreibungen von Weiblichkeit, öffentliches Zur-Schau-Stellen in der Mediengesellschaft, Pubertät und Sexualität. Ließ man sich darauf ein, überwältigte es.
Medea ist ein klassisches Kolonialistenmotiv: Die Frau in der Zivilisationsferne unterstützt Eroberer Jason beim Raub des Goldenen Vlieses, flieht mit ihm ins griechische Kulturreich, um hier dann zu verkümmern. Bis heute wird sie auf den Bühnen in aller Regel als Zauberin, wilde Exotin und fremde Furie interpretiert, die rachsüchtig und brutal mordet. Wer sie ist, fragen wenige, oder nehmen sie als fühlendes Wesen ernst. Doch da hört das Schillern der Medea noch nicht auf. Es gibt eine Notiz, dass die tragische Frauenfigur eine Tochter namens Eriopis hatte. Was sie als zurückbleibende Überlebende zu erzählen weiß, hat sich die finnische Autorin E. L. Karhu überlegt. Schon ihr Stück „Prinzessin Hamlet“ (Regie: Lucia Bihler) überzeugte am Haus. War dort ihr Thema, wie eine Frau medial zum Star zugeschnitten wird, fächert sie es in „Eriopis“ weiter auf: Es geht ihr um die Produktion von Weiblichkeit, Mitleiden mit sowie das Weiden an einem Opfer, um Kritik an öffentlich produzierter Oberflächlichkeit und spätkapitalistischem Erfolgsmantra und Stehaufmännchenkitsch.
Das Setting wird in die Neuzeit verlegt. Scheidungskind und Halbwaise Eriopis soll das elterliche Schlittenhund-Unternehmen leiten. Zum Vater entwickelt sie keine richtige Bindung, muss mit Zuschreibungen von außen, von einem am Elend interessierten Publikum kämpfen. Darum hat sich Regisseurin Anna-Sophie Mahler darauf verlegt, in der Uraufführung ganz aus der Innenperspektive der jungen Frau zu erzählen. Dafür setzt sie vor allem auch auf Musik. Stück für Stück setzen eine Schauspielerin, eine Sängerin und ein Musiker Eriopis‘ Seelenleben zusammen. Wie tickt Medeas Tochter?
Eriopis tritt zweimal auf, richtig anwesend ist sie dennoch nie. Sie erscheint in Worten und Körpern von Schauspielerin Julia Berke und Sängerin Yuka Yanagihara, wird von ihnen quasi hervorgerufen. Erinnerungen und Träume der Jugendlichen rufen sie hervor, meist in knappen Schilderungen oder rätselhaften Gesangssequenzen aus Richard Strauss‘ „Salome“. Spielszenen jenseits symbolischer Akte wie Eincremen oder Brotverzehr finden nicht statt. Musikalisch untermalend unterstützt sie Michael Wilhelmi am Flügel – der manchmal als Vaterfigur aufscheint.
Das alles bleibt sehr assoziativ, lose wie ein sich drehendes Kaleidoskop, in dem das Licht immer wieder auf andere Glitzersteinchen fällt. Diese Wirkung unterstreichen auch die Handykameraprojektionen, die fast durchgängig den sonst weißen Bühnenraum füllen. Dabei entstehen starke Bilder mit Sogeffekt. Etwa wenn Yanagihara mit scheinbar abgeschnittener Zunge in der dreifachen Totalen erscheint und vom Geschmack blutiger Lippen singt.
Dass Eriopis nie wirklich selbst spricht, sondern von außen befragt und alles über sie erzählt wird, macht zusammen mit den Projektionen eine Medienkritik überdeutlich. Wenn der Vater meint, auch aus dieser Krise gestärkt hervorgegangen zu sein, dann ist das beißender Spott auf eine Gesellschaft, in der Scheitern, ja, die größte Tragödie noch als Chance begriffen werden muss.
Die ganze Inszenierung ist hoch symbolisch aufgeladen. Das beginnt mit der Bühnenfarbe, die nicht nur ein hübscher Kontrast zum roten Blut ist, sondern den Schnee der lebensfeindlichen Nordlandschaft meinen kann, aber auch die Motive Reinheit und Unschuld berührt. Das Blut steht neben dem Offensichtlichen – dem Mord Medeas an ihren Zwillingen –, ebenso für Menstruation, Frauwerdung, aber auch für die Zuschneidung des jungen Körpers an gesellschaftliche Normen. Die Überlagerungen der Bedeutungsschichten, dass sie sich nicht klar trennen lassen, ist gewollt. Man erfährt in „Eriopis“ nichts über Medea. Sie wird als historischer Ballast lediglich deshalb touchiert, weil Autorin E. L. Karhu verdeutlichen will, dass ihre Fragen keine neuen sind. Sie werden im Mythos und seinen theatralen Interpretationen nur zumeist unterschlagen, zugunsten des Helden Jason und des Schauders an der mordenden Frau. Stattdessen geht es hier um Einfühlung, was Anna-Sophie Mahler in eine lose, aber emotional angehende Bildersammlung übersetzt.