Foto: Ensemble in "Mass" am Musiktheater im Revier © Forster
Text:Nora Auerbach, am 7. Oktober 2018
Auf der Bühne herrscht fast schon ein Rummel von 180 Künstlern, Tänzern und Sängern. Richard Siegal, bekannt für sein Interesse an Gegensätzlichem und seine grenzüberschreitenden Arbeiten, inszeniert und choreographiert Leonard Bernsteins „Mass“ („Messe“). Auch die Kostüme hat Siegal eigenhändig entworfen, sie fallen aber deutlich schlichter aus, als man es von seiner eigenen Kompagnie Ballet of Difference kennt. Schließlich tanzt hier die Gemeinde, heute Abend wird eine Messe gefeiert, wird gebetet und gesegnet. Auch die Zuschauer müssen ran und ins „Almighty Father“ einstimmen.
Erklärtermaßen „gigantisch“ soll sie laut Pressetext werden, diese Spielzeiteröffnung im Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. Und das ist der Abend dann auch, schon weil Siegal das gesamte Haus bespielt. Alle Sparten wirken unter der Leitung von GMD Rasmus Baumann mit, Tänzer, der Opernchor, der Knabenchor der Chorakademie Dortmund, eine Rock-Blues-Band und die Neue Philharmonie Westfalen stehen an dem Abend, singend, spielend und tanzend auf der Bühne, auf den Rängen und im Zuschauerraum. Musikalisch ergibt sich ein Konglomerat aus Marschmusik, Jazz, Kirchenmusik, Klassik und Pop-Rock-Songs.
In „Mass“, geschaffen zur Eröffnung des Kennedy-Centers for the Peforming Arts, vereint Bernstein Jazz mit Musical und Kirchenkonzert und verhandelt dabei das Grundproblem des menschlichen Glaubens: den Zweifel, die Theodizee. Wie kann Gott existieren bei so viel Unheil in der Welt? „Mass“ erzählt vom Hadern mit sich und der zerbrechlichen Welt, von Hoffnungsstärke in Zeiten des Umbruchs. Das mögliche Bessere als Grundsatz des Handelns, als Mahnung zur Verantwortung eines jeden. Der Street Chorus, der rockig-poppig, also betont volksnah, auftritt, fragt nach dem Sinn der Beichte, klagt über materielle Zwänge und persönliche Sinnkrisen. Tänzer und Street Chorus treten an ein Pult und schmettern dem „Und es war gut“ der biblischen Schöpfungsgeschichte die anklagende Wahrheit des Kolonialismus, des Kriegs und der Ausbeutung entgegen. Diesem Klagen und Fragen der „Gemeinde“ antwortet der Chor von der „Empore“ des zweiten Rangs wie in der Liturgie der römischen Messe. Zwischen beiden versucht der weißgewandete Priester, gespielt von Henrik Wager, zu vermitteln. Der in Schwarz gekleidete Tänzer und Sänger Paul Calderone tritt dem Zelebranten entgegen, als Individualist, der sich nicht mit einfachen Worten zufriedengibt. Der Abend steuert auf den Fall, den Glaubensverlust des Zelebranten, zu. Er, der nie aufgibt, wird durch die Worte „Wir können alles an einem Tag zerstören“ wieder zum Menschen. Die Herumirrenden folgen ihm wieder, er selbst wird darüber jedoch zum Zweifler. Aber die Hoffnung ersteht in Gestalt eines Chorknabens wieder auf, der den Lobgesang „Lauda! Laude“ anstimmt.
Frei nach Siegals Grundsatz, dass es nur Konventionen gibt, aber keine Regeln, rennen, stampfen und tippeln die Tänzer umher. Ihr kindliches Herumtollen mischt sich mit klassischen Ballettsprüngen, mit akrobatischen Formationen und raumgreifenden Hüftbewegungen. Häufig wirkt das Geschehen chaotisch, jedoch nie unbeholfen. Eine exakt gearbeitete Choreographie trifft auf gewollte Unordnung. Doch der Sog, der Siegals Choreographien kennzeichnet, kann sich angesichts der permanenten Gleichzeitigkeit der Geschehnisse auf der Bühne nicht wirklich entfalten. Die hölzerne Bühne (Bühne: Stephan Mayer) fungiert als mobile Fläche, verwandelt sich im Laufe des Stückes immer wieder, lässt einen Thoraschrein erstehen. Die kleinteilige Holzkonstruktion öffnet den Raum und verengt ihn wieder bis hin ins Klaustrophobische. Über der Bühne hängt ein Drahtelement mit einem Aktienkurs aus LED-Pünktchen, der hier die Konjunktur des Glaubens symbolisiert.
GMD Baumann dirigiert die Ränge, die Bühne, den Graben. Der Graben ist überbaut mit einem Holzsteg und verbindet so den Zuschauerraum mit dem Bühnengeschehen. Zwar überrascht die Musik das Publikum immer wieder, wenn sie erneut aus einem anderen Winkel ertönt. Doch die beabsichtigte Integration der Zuschauenden gelingt nicht überzeugend, letztlich bleiben sie nur Beobachter all des Trubels, werden nicht wirklich hineingezogen.
Zum Schluss treten Chöre und Tänzer an den Rand der Bühne, setzen sich auf die Holzrampe. Der Zelebrant entlässt das Publikum: „Die Messe ist beendet. Gehet in Frieden.“ Das Aktienchart verwandelt sich in den Stern von Bethlehem, um Gottes Schäfchen heim zur eigenen Krippe zu leiten. Zwar gelingt inhaltlich durchaus die Aktualisierung des Stoffes, doch steht eher der Klamauk im Zentrum der Gelsenkirchener Inszenierung als der Denkanstoß in Glaubensfragen. Das Publikum zeigt sich begeistert.