Foto: Natsuho Matsumoto, Leander Veizi und Tanzcompny des Theaters Regensburg in "Love Letters" © Marie Liebig
Text:Vesna Mlakar, am 15. April 2023
Was Wagner Moreira da neu aufgestellt hat, ist formidabel. Die kleine Truppe des gebürtigen Brasilianers, der seit 20 Jahren in Deutschland lebt und in der Saison 2020/21 erste Erfahrungen als Spartenverantwortlicher für Tanz an den Landesbühnen Sachsen sammeln konnte, darf man als überaus spielfreudig und präsent im Ausdruck bezeichnen. Und auch technisch beeindrucken die zehn neuen Akteure beim 80-minütigen Tanzabend „Love Letters“ im Regensburger Antoniushaus (Ausweichspielstätte für das wegen Sanierung geschlossene Velodrom): ein intensives, teilweise recht lustiges Episodenstück über den Facettenreichtum von Beziehungen, Partnerschaft und platonischer oder sinnlich-körperlicher Liebe.
Seit Anfang dieser Spielzeit leitet Moreira – in der Nachfolge von Georg Reischl – die Tanzcompany am Theater Regensburg, als deren Chefchoreograf er zugleich fungiert. Seinen Einstand am Haus feierte der 45-Jährige bereits zu Saisonbeginn mit seinem 2017 in Dresden uraufgeführten Solo „I Play d(e)ad“ – eingedenk des Freitods seines Vaters vor 23 Jahren. Dafür war Moreira mit dem Sächsischen Tanzpreis ausgezeichnet worden. Das Publikum in Regensburg lernte den routinierten Neuen, der einen Master of Arts in Choreografie der Palucca Hochschule Dresden vorweisen kann, auf diese Weise erst einmal allein und als durchaus versierten zeitgenössischen Tänzer kennen.
Dem gefühlsstarken, sehr persönlichen Auftakt ließ Moreira sein Tanzstück „Insideout“ speziell für junges Publikum folgen und mit „Massa Mobil“ eine halbstündige Performance, die die ganze Kompanie hinaus in den öffentlichen Stadtraum führte. Das Format des bloß auf ein Thema fokussierten Abendfüllers hob sich Moreira – taktisch nicht unklug – bis jetzt auf. Gut so, denn er baute den engen Bezug zum und inhaltlichen Austausch mit dem Publikum in die Vorbereitungen dieser Produktion ein, indem er darum bat, dem Ensemble Liebesbriefe als Inspirationsquelle zuzuschicken.
Authentische Liebesschwüre
Angekommen sind offenbar eine Fülle an unterschiedlichsten leidenschaftlichen Schreiben, so dass es zahlreiche Zitate später sogar auf die Bühne schafften. Als Dreh- und Angelpunkt stehen die eingesandten Liebesbriefe stets im Mittelpunkt. Immer wieder werden sie durch das haufenweise auf der Bühne vorhandene Papier für die Tänzerinnen und Tänzer haptisch greifbar und oft unmittelbar in die pfiffig choreografierten Nummern direkt eingeflochten. Stimmen aus dem Off rezitieren Zeilen, Absätze und manchmal auch bloß Worte daraus.
Musikalisch harmonieren die geschilderten Gefühlslagen mit einem wilden Mix aus Songs sowie Kompositionen von Robert und Clara Schumann oder Max Richter. Selbst Passagen aus Prokofjews „Romeo und Julia“ sind zu hören. Und das tolle Duett, das ein Paar synchron zum berühmten Liebes-Pas de deux aus Adolphe Adams „Giselle“ tanzt, weckt sofort die Hoffnung, dass sich Wagner Moreira demnächst auch an Stücke mit noch mehr inhaltlichem Potenzial wagen wird.
Schon zu Beginn, beim Aufsuchen des Platzes, muss man sich an in den Stuhlreihen knutschenden Pärchen vorbei drücken. Aus dem Off hört man leises Gemurmel. Dann streifen Suchscheinwerfer durch den Zuschauerraum und lotsen die dort frei verteilten Tänzerinnen und Tänzer allmählich Richtung Bühne, wo sie dann relaxed in Schlangenlinien hin und her walken. Moreira fordert seine internationale Crew insbesondere in den ersten von insgesamt 23 – im Programmheft meist mit Ein-Wort-Kurztiteln versehenen – Szenen auch sprachlich ziemlich heraus und lässt sie auf Deutsch verfasste Passagen aus Briefen charmant mit Akzent und hie und da über den einen oder anderen Zungenbrecher stolpernd vorlesen.
Wechselnde Formationen
Spätestens wenn die Gruppe eine der Tänzerinnen dabei mit Küssen und Streicheleinheiten schier zu erdrücken droht und – einer liebestollen Masse gleich – ihren von Kitzel gequälten Körper höher und höher in die Luft hebt, ist die unterhaltsame Choreografie in medias res angekommen. De facto geht es um nicht mehr und nicht weniger als den Moment des Zueinanderfindens – ganz einfach und dabei hübsch bildhaft-schlüssig. Das intime Band der Liebe soll über die Zeiten hinweg bewahrt werden, selbst wenn ein Streit die Beziehung bedroht.
Nach und nach zeigt die internationale Crew, was sie an tänzerischer Brillanz und volldynamischen Drehungen, fixen Wendungen, überraschender Bodenakrobatik, Sprüngen, Hebungen, lautlos-weichem Fallen und sich sofort wieder Aufrichten, Überschlägen, Partnering und schnellen Positionswechseln alles drauf hat. Dies gelingt Vittoria Carpegna (Italien), Bérénice Durozey (Frankreich), Pedro Henrique Ferreira (Brasilien), Momoe Kawamura und Natsuho Matsumoto (Japan), Fátima López García (Spanien), Win McCain (USA), Leander Veizi (Albanien) und Chih-Yuan Yang (Taiwan) jeweils mit individuell-frappanter Leichtigkeit. Permanent steigert sich das Ensemble dabei unter Einsatz diverser Requisiten.
Handwerklich hat Wagner Moreira hier gute Arbeit geleistet. Seine Protagonisten treten wiederholt solistisch ins Rampenlicht, agieren gemeinsam in Duos und bündeln in Tutti-Tableaus ihre Emotionen. Auffallend bei letzteren ist, wie Moreira die Gruppe durch das Hervorstechen Einzelner oder mal durch eine Diagonale von vier Tänzern, die sich zeitgleich aus dem Kollektiv abheben, subtil strukturiert. Großen Spaß macht es zudem, wenn die Protagonisten mit fünf weißen Matratzen im Raum herumhantieren. Mal nimmt man diese als Wände, dann wieder wie Mauern von Wohnhäusern in Straßenschluchten wahr, durch die die Tänzer hindurch eilen. Am wildesten geht es auf den Matratzen jedoch in stiller Zweisamkeit zu … Moreira und sein Team haben herrliche Augenblicke kreiert, die regelrecht an einem vorbeirauschen.
Die verbindende Schlüsselfigur des Stücks verkörpert Vincent Wodrich (Deutschland) im rosa Satin-Kostüm und kleinen Federflügeln an den Schultern als sprechender, tanzender und über eine Flotte rollender Schreibmaschinen gebietender Cupido. Womit wir bei der generellen inhaltlichen Unschärfe des Abends angekommen wären: „Love Letters“ stellt nicht nur dar und hinterfragt, was Menschen meist handschriftlich zu Papier gebracht haben, Moreira gleitet thematisch ab, wenn er seine Tänzer auf eine Reise zu schicken scheint, die irgendwann in einem Büroambiente endet. Dort nimmt der überforderte Cupido dann Bewerbungen zum Assistenten ab. Reich an guten Ideen ist „Love Letters“ trotzdem.