Text:Ekaterina Kel, am 7. Februar 2016
Wer sagt eigentlich, dass man nicht auf die Einfachheit setzten darf? Am Gießener Stadttheater hat der Regisseur Dominik Wilgenbus ganz optimistisch seine Karten auf Eindeutigkeit und Naivität gesetzt – und haushoch gewonnen. Seine Inszenierung der Opéra comique „La dame blanche“ von François-Adrien Boieldieu offenbarte das künstlerische Wesen der erst kürzlich wiederentdeckten Oper: gutgläubig, naiv, simpel, aber auch verheißungsvoll und voller Optimismus. Und da wippten schon die ersten Köpfe im Publikum, obwohl die Oper alles andere als ein bekannter Kassenschlager ist. 1825 in Paris uraufgeführt, erfreute sie sich in Europa des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit, bevor sie während der Weltkriege gnadenlos in Vergessenheit geriet. Wilgenbus selbst fertigte eine neue Übersetzung an, die den Sprachwitz auf den Punkt bringt.
Jan Hoffmanns behutsamer Umgang mit dem simplen Opernpop gibt der Musik Raum, in ihrer Dynamik aufzugehen. Entgegen der Naivität der Harmonien vertraut der stellvertretende Generalmusikdirektor auf die romantische Note darin, die, zugegeben, trotzdem sehr klein ausfällt. Hoffmann dirigiert angenehm unprätentiös, lässt den Tönen ihren Raum und den Streichern ihre Sanftmut, trägt nicht zu dick auf – und das ist für die Komposition sehr wichtig, die sonst Gefahr läuft, als platter Pop verkannt zu werden. Während der Ouvertüre bleibt der Vorhang geschlossen, so kann sich die Musik gelassen in den Köpfen der Zuschauer absetzen. Und das gelingt ihr auf Anhieb. Zu schnell für einen ernsthaften Anspruch auf Raffinesse. Aber schnell genug, um zu verstehen zu geben: Ich bin immer noch ein Hit!
Diese Oper verlangt nach Volksnähe – und die muss erst hergestellt werden. Da helfen die schottischen Röcke, übergroßen Schleifen und karierten Bommelmützen der Dorfbewohner – in Lukas Nolls Kostümbild findet sich genug, um einen Faschingswagen auszustatten. Chor und Extrachor des Stadttheaters füllen die Bühne mit Choreographien aus dem Musicalrepertoire; Crossdressing darf in der Vaudevilleszenerie ebenfalls nicht fehlen. Die ohnehin kleine Bühne hat Noll auf einen leicht angehobenen grünen Hügel reduziert, auf dem sich die Handlung fast ausschließlich abspielt. Im Kleinen steckt jedoch genau der richtige Ansatz für die „Weiße Dame“. Die Szenen und die Figuren werden schön beieinander gehalten und die stellenweise eindimensionale Musik muss sich nicht in einem großen Raum behaupten, den sie nicht füllen kann und auch nicht soll: Dieses Stück braucht keine großen unnahbaren Bilder – es verlangt nach unmittelbarer Nähe.
Konsequent bis ins letzte Detail wird das ach-so-gruselige Schloss also zum drolligen Puppenhaus mit rustikalem Charme, das als Attrappe auf die Bühne gerollt werden kann. Es ist dies das Schloss, um das sich der Streit entfacht zwischen dem gierigen Kapitalisten Gaveston (Tomi Wendt), der schamlos zu lügen vermag, um an Grafentitel und Macht zu kommen. Wendt gibt einen herrlichen überzogenen Bösewicht mit dünnem Oberlippenbärtchen.
Doch da kommt ihm schon der Held in die Quere: Ganz ahnungslos stolpert er nur so in die Szenen hinein, im Grunde nur darauf aus, seine unglückliche Liebe zu einer Unbekannten in Alkohol und unbedeutenden Flirts zu ertränken. Der Held ist ein echter Waschlappen: Mit dreckigem Saum, besitzlos und völlig verpeilt bleibt der Unteroffizier durchweg zögerlich und etwas dümmlich. Genauso muss er aber sein und sorgt für eine gehörige Portion Slapstick. Clemens Kerschbaumer brilliert zum Ende hin mit überzeichnet emotionalen Soli und erntet tosenden Applaus für die Gutherzigkeit und Tollpatschigkeit seiner Figur.
Doch es sind vor allem Boieldieus Duette und Ensemblestücke, die mit genießerischen, einfallsreichen Verläufen und tonalen und rhythmischen Überraschungen überzeugen. Der Chor geht eine fantastische Symbiose mit den Solisten ein und die Musik bewegt sich regelrecht in Wellen auf der kleinen Bühne – mal verteilt sie sich breitflächig auf alle Choristen, mal taucht sie aus der brausenden Menge pointiert im Solo wieder auf. Die Inszenierung greift diese schon in der Musik angelegten Bewegungen gekonnt auf und stellt klare Bilder her: trotz der schwierigen Aufgabe, das Gewusel von Röcken und Mützen zu sortieren, bildet die Bühne einen klar abgesteckten Raum, in dem es unerwartet viel Spaß macht, dem strukturierten Durcheinander zuzuschauen.
Und die Weiße Dame? Feierlich wird sie mit intrigantem Sopran von der Pächterin Jenny (Katharina Göres) angekündigt. Doch der „gute Geist“ der Weißen Dame, von einer etwas plumpen Harfe begleitet, zeigt sich erst im zweiten Akt. Im wahren Leben ist sie Anna, das unmündige Hausmädchen. Die Sopranistin Naroa Intxausti verleiht ihr jedoch trotz klobigem Schulmädchen-Outfit mit einer klaren, überraschend hellen Stimme eine charmante Bühnenpräsenz. Erst durch die Verkleidung in Weiß kann Anna ihr kluges Köpfchen zeigen, erst mit einer Maske kann sie offen sprechen und Pläne zur Rückeroberung des Schlosses schmieden – und sie kann Befehle erteilen. Den ahnungslosen Soldaten wickelt sie ohne weiteres um ihren weißen Schleier. So kann sie durch ihn sprechen und das Schloss vor der Nase ihres bösen Vormundes Gaveston zurückersteigern. Zu guter Letzt siegt die alte Ordnung des Adels, denn der naive Held erkennt den schottischen Nationalgesang, entpuppt sich als verschollener Sohn der verstorbenen Gräfin des Schlosses und somit als rechtmäßiger Besitzer.
Es ist wie im Märchen: Die Figuren sind altbekannte Karikaturen. Und innerhalb dieses Unterhaltungsuniversums im musikalisch ambitionierten Protomusical können sie ihre psychologische Tiefe ausschöpfen. Schauer und Grusel wird zu wallenden Vorhängen, Anmut und Grazie zu satter Eindeutigkeit. Das Überzeichnen nutzt sich hier allerdings nicht ab, verleiht dem Stück vielmehr Leichtigkeit und Komik. Wilgenbus’ Inszenierung lässt sich voller Gutgläubigkeit auf dieses Universum ein, begrüßt die Farce, scheut nicht zurück vor der Plattitüde, thematisiert konsequent ihre eigene Gemachtheit und bleibt sich selbst dadurch treu. So legt die Inszenierung überraschenderweise die Stärke der Oper frei, die gerade in der boulevardesken Ironie liegt. Wenn man sich denn darauf einlässt, ist das alles ein großer Spaß – davon zeugt auch der lang anhaltende, treue Applaus der Gießener.