Foto: Roman Trekel (Boatman), Linard Vrielink (Asle), Siyabonga Maqungo (Jeweler) © Gianmarco Bresadola
Text:Jasmin Goll, am 29. November 2021
Ein raumgreifender, aufgeschnittener Fischkadaver windet sich auf der Drehbühne der Berliner Staatsoper. Außen glänzen noch Schuppengewand und Augen, innen blicken uns Skelett und Fleisch entgegen (Bühne: Monika Pormale). Diese beiden Dinge, der Schein und Wunsch nach einem guten Leben einerseits und der Kampf ums nackte Überleben andererseits, liegen in dieser Oper nahe beieinander. Komponist (und hier auch Dirigent) Peter Eötvös feiert mit „Sleepless“ die Uraufführung seines 13. Bühnenwerks.
Ein raues Klima: Alida und Asle lieben einander, erwarten ein Kind, sind jedoch nicht verheiratet und suchen (deshalb) vergeblich Unterschlupf. Absage folgt auf Absage. (Die Anspielung auf die biblische Weihnachtsgeschichte lässt sich bei der auf den ersten Advent gelegte Premiere nicht leugnen, auch wenn sie inszenatorisch nicht zum Thema wird.) Asle beantwortet die ihnen entgegenschlagende Gefühlskälte mit roher Gewalt. Drei verübte Morde bringen ihn schließlich selbst aufs Schafott. Die norwegische Dorfgemeinschaft greift zur Selbstjustiz.
Wie so oft setzt sich Peter Eötvös mit einem literarischen Werk eines zeitgenössischen Schriftstellers auseinander: Es handelt sich um „Trilogie“, drei Novellen des norwegischen Autors Jon Fosse, von der die erste („Sleepless“) letztlich namensgebend wurde. Librettistin Mari Mezei hat eine klug durchdachte Szenenfolge daraus gemacht, welche das Verhältnis Individuum–Gesellschaft, etwa wie in Bergs „Wozzeck“, abwechslungsreich auffächert. Stellvertretend für die Dorfgesellschaft begegnet das Paar etwa einer alten Frau, einer Prostituierten, Fischern und einer Hebamme. Zudem kommentiert ein Doppelvokaltrio, zugleich kernig und schwebend im Klang, das Geschehen aus den Proszeniumslogen heraus als allwissender Erzähler. Den Quintenzirkel nutzt Eötvös als Webrahmen, um die Szenen zu vernetzen und eine Kreisstruktur zu erzeugen: Systematisch hüpft er zu jedem der zwölf Töne und kommt am Ende beim gleichen Ton wie zu Beginn heraus. Schließlich endet die Handlung mit Alidas Gang ins Meer, um mit ihrem toten Geliebten eins zu werden.
Sprache: geradlinig
Fosses Sprache, die an Punkten spart und vertont wie ein unendliches Rezitativ dahinströmen könnte, hat Mezei vereinfacht und musikalisch vorstrukturiert. Kurze Hauptsätze, simples Vokabular und Wiederholungen betonen die Rohheit der Handlung und ermöglichen interpretatorische Dehnbarkeit, lassen die Figuren aber auch recht eindimensional zurück. Kornél Mundruczós Regie füllt die Leerstellen mit Konkretion, die Charaktere bleiben aber trotzdem oft blass. Statt einer überzeitlichen Parabel sehen wir zeitgenössisch anmutende Kostüme und Mobiliar im Fischsbauch (Bühne/Kostüm: Monika Pormale). Und trotzdem versucht sich Mundruczó, der vor allem auch als Filmregisseur bekannt ist, nicht an Filmrealismus, was gut ist. Wellen, Wolken, Tiere sind mehr Staffage als illusionierende Kulisse und sorgen, eingebaut in szenische Gags, für Geschmunzel im Zuschauerraum. Die bei Fosse eröffneten (manchmal nur grob verhandelten) existenziellen Fragen – die Schuldfrage beim Mord, die gesellschaftliche Verantwortung für das Individuum, das spannungsvolle Zusammenleben von Jung und Alt – schwingen mit, werden aber an das Publikum zurückgespielt.
Dass die Regiekonzeption zunächst ohne Klangeindruck entworfen wurde, lässt Musik und Szene dennoch nicht auseinanderfallen, verhindert aber auch scharfe szenische Kontrapunkte. Die Streicher erzeugen einen vagen, nebligen Klang. Repetitive Patterns unterstreichen Unsicherheit und Ungeduld der Protagonist*innen. Die reiche und differenzierte klangfarbliche Palette an Perkussionsinstrumenten, darunter Vibraphon, Marimba, verschiedene Glocken, Triangeln, Becken, tritt solistisch in den Vordergrund, was die Szenenübergänge zu einem Hörerlebnis werden lässt. Lokalkolorit schafft Eötvös nur dezent, etwa mit einem norwegischen Lied auf der Hardangerfiedel. Auch wenn Asle und Alida dort leben wollen, „wo der Fjord glitzert und der Lachs aus dem Wasser springt“, bedient die Musik kein romantisiertes und klischeebehaftetes Bild Norwegens.
Besetzung: repertoirefähig
Die stimmfachliche Besetzung bewegt sich entlang gewachsener Opernkonventionen, was „Sleepless“ repertoirefähig macht, manchmal aber schablonenhaft und (geschlechter-)stereotyp daherkommt. Asle (Linard Vrielink), dem Teenageralter kaum entwachsen, der aber seinen Mann zu stehen versucht, bedient die etwas unbedachte und mit strahlenden Spitzentönen versehene Tenorrolle. Der Man in Black (Tómas Tómasson), der um die Morde weiß, erinnert durch die gravitätischen Gesanglinien an den richtenden Komtur aus „Don Giovanni“. Hier hätte man sich mehr Farben gewünscht. Victoria Randem, bis vor Kurzem noch Teil des hauseigenen Opernstudios, singt die fein geführte Partie der Alida sauber, mühelos und mit schönem Schwellton, fokussiert sich auf die Vokale und büßt damit Textverständlichkeit ein. Eötvös beweist auch Sinn für gesangliche Groteske, die die Zurechnungsfähigkeit der Figuren in Zweifel zieht: Die Stimme des ‚Girls‘, die Asle als Prostituierte einwickelt, springt in Glissandi und Koloraturen unberechenbar in die Höhe. Sarah Defrise füllt die Überdrehtheit der Rolle gesanglich wie darstellerisch überzeugend aus. Ein Glanzpunkt ist die Szene beim Juwelier, nicht nur wegen des im Fischmaul glitzernden Geschmeides, vor allem wegen des strahlenden Timbres des vielversprechenden hohen Tenors Siyabonga Maqungo.
Eötvös‘ Werke – allen voran „Drei Schwestern“, aber auch „Der goldene Drache“ oder „Angels in America“ – werden an Häusern unterschiedlichster Größe regelmäßig aufgeführt. Ob „Sleepless“ das auch schafft, bleibt abzuwarten. Die Chancen für weitere Inszenierungen stehen angesichts der Standing Ovations beim Premierenapplaus womöglich nicht schlecht.