Foto: Landon Harris und Yun Kyeong Lee in "Der kleine Prinz" an der Oper Leipzig © Ida Zenna
Text:Hartmut Regitz, am 6. März 2023
Ein schmales Buch, je nach Ausgabe kaum hundert Seiten stark. Antoine de Saint-Exupéry hat „Le petit prince“ mitten im Zweiten Weltkrieg geschrieben. Eine Geschichte, die wie keine andere im Kleinen das Große, im Mikro- den Makrokosmos erfasst. Den Kindern hat er Autor sein philosophisches Märchen vom „kleinen Prinzen“ einst ans Herz gelegt. Generationen von Erwachsenen ist es seither zur lebenslangen Lektüre geworden, immer wieder aufs Neue faszinierend, weil es die menschlichen Probleme so unnachahmlich auf den Punkt bringt. Besser gesagt: auf den kleinsten Planeten, den man sich vorstellen kann.
Auf der noch nachtdunklen Bühne des Leipziger Opernhauses wirkt das Kinderzimmer winzig, wie verloren im Universum, das Alain Lagarde zunächst durch einen hell leuchtenden Neonring markiert. Die Mattscheibe flimmert, vielleicht schaut sich der Junge gerade die Geschichte vom „kleinen Prinzen“ an. Sein Spielzeug wirkt jedenfalls angepasst: ein Stofffuchs, eine Schlange, ein Spielzeugflieger. Auch die blutrote Rose ist nicht weit, in einer Vase auf dem Fernseher. Doch den Bruder, der den Jungen mit seinem Gehabe stört, gibt es nicht in der Erzählung von Saint-Exupéry. Auch keinen Vater, der ihn ins Bett schickt. Eingeschlafen, erscheint ihm wie in einem Traum zunächst die Rose, verkörpert von keiner anderen als Madoka Ishikawa, die faszinierend hineingleitet in fließende Formen und wie im Raum schwimmt mit wellenden Armen.
Anspielungsreiche Aktualisierung
Wie man alsbald erkennt, verortet Bryan Arias (ein auch bei uns längst erfolgreiche Choreograf aus Puerto Rico) die fantasievolle Fabel des Franzosen im Hier und Heute. Der Tänzer Landon Harris erscheint nicht im Prinzenhabit, wie man es aus den Zeichnungen des Autors in Erinnerung hat. Allenfalls lässt sich das Grün seines Kostüms noch als eine Reminiszenz an die Vorlage deuten. Dass sich unter dem seidenen Anzug seines Bruders eigentlich der Eitle des Buches verbirgt, muss einem allerdings bei der Einführung gesagt werden. Wie auch andere Figuren einer Erklärung bedürfen. In Kooperation mit Gregor Acuña-Pohl als „Co-Creative“ und der Dramaturgin Anna Elisabeth Diepold banalisiert Arias die Geschichte zwar nicht, wie ein Premierenbesucher verärgert meint. Aber er konkretisiert die Vorlage doch in einem Maße, die die Publikumsfantasie einzuengen droht. Was Wunder also, wenn man im ersten Akt an „Unsere kleine Stadt“ von Thornton Wilder denkt, während der zweite mit seiner Großstadtkulisse auch bei der „West Side Story“ als Hintergrund dienen könnte.
Dass Arias (mitsamt Alain Lagard als Bühnenbildner und Kostümdesignerin Bregje van Balen) seine Aufführung durchlässig macht für andere Deutungen, ist kein Manko. Ganz im Gegenteil. Großenteils choreografiert er zu der vielschichtigen, immer aber harmonischen „Human Suite“ von Helge Burggrabe. Er entwickelt ein Personenpanorama, das sich nie zur Eindeutigkeit verdichtet. So kann der wahrhaft virtuose Marcos Vinicius Da Silva in seinem Goldlamé beides sein: ein Dealer und die Schlange, die dem Kleinen Prinzen zuletzt die ersehnte „Seelenwanderung“ ermöglicht. Doch virtuos sind eigentlich alle Mitglieder des Leipziger Balletts, die sich in wechselnden Begegnungen als literarische Erfindungen Saint-Exupérys outen. Immer wieder gibt es grandiose Soli, in die sich Tänzer wie Tänzerinnen voller Hingabe hineinschrauben, um sich dann wieder aufzulösen in scheinbar knochenlosen Körperwindungen. Alles Klassische ist Arias fremd, selbst wenn man sich seine Szene mit den Blumenmädchen auch auf Spitze vorstellen könnte. Wunderschön ist sie, formenreich und dabei von feinstem Bewegungsfiligran: ein Rosenbouquet der besonderen, der tänzerischen Art.
Wie in einem Drogenrausch endet die Vorstellung nach gut zwei Stunden mit „The Lark Ascending“ von Ralph Vaughan Williams. Begleitet vom Gewandhaus Orchester unter Dominik Beykirch, geigt sich Yun-Jin Cho hinauf in die höchsten Himmelssphären. Und auf den Armen seiner Traumfiguren kommt der kleine Prinz endlich zum erhofften Fliegen: ein Augenblick, bei dem man den Atem anhält. Um wie bei der Uraufführung anschließend einen Choreografen zu bejubeln, der sich mit seinem Ballett für weitere Aufgaben, wenn nicht gar für eine vakante Leitungsposition empfiehlt.