Foto: Sandra Bourdais und Maurus Gauthier in Marco Goeckes „Der Liebhaber“ © Ralf Mohr
Text:Vesna Mlakar, am 3. März 2021
Kompanieglück – für den Zuschauer ablesbar an den filmisch eingefangenen Gesichtern der Mitwirkenden. Auch dem Produktionsteam brandet nach 70 eindrücklichen Minuten aus dem an sich ja leeren Zuschauerraum vermutlich ein rein hausinterner Jubel entgegen. Endlich hat es Marco Goeckes abendfüllende Kreation „Der Liebhaber“ nach Marguerite Duras live auf die Bühne geschafft – sein eigentlicher Einstand für das vergangene Spielzeit unter seiner Leitung neu aufgestellte Staatsballett Hannover. Zehn Monate später als geplant, da man pandemiebedingt drei Anläufe nehmen musste.
In puncto Bühne und Kostüme hatte dies zur Folge, dass der seit 2019 fest am Haus engagierte Bühnenbildassistent Marvin Ott von Goeckes langjähriger Mitarbeiterin Michaela Springer die Ausstattung übernahm. Gemeinsam mit dem Regensound stellt Ott motivisch-bildhaft – wie die wellenartig-wuchtige Bühnenschräge im Hintergrund zeigt, über die einzelne Interpreten auch prächtig surfen, rutschen und rennen können – den zur Verortung vieler Szenen wichtigen Aspekt von Wasser stark heraus. Als markantes Erkennungszeichen des im Zentrum stehenden Mädchens (absolut faszinierend: Sandra Bourdais als Girl) dient ihr auffallender Männerhut.
In der abstrakt-reduzierten, der Leere Raum gebenden Bühnenanmutung findet sich alles bis hin zur schwarzen Limousine. Zwei seitlich vom Rand ins Bild gezogene Stoffhänger lassen den Betrachter in die düsteren Sphären des boshaft-verdorbenen älteren Bruders (Rosario Guerra) der Hauptprotagonistin blicken. Zum Schluss reicht ein Container für deren – durch einen Selbstmord zu Chopins Walzer in b-Moll getrübte – Ozeanüberquerung.
Angetrieben von kaum wahrnehmbar gesungenen Bruchstücken aus „Mon truc en plume“ und „Je te tuerai d’amour“ von Zizi Jeanmarie geht die Schiffsreise von Saigon nach Paris. Dort endet das Stück – etwas lapidar mit dem wortwörtlich (inklusive englischen Untertiteln) aus dem Off vorgetragenen, auch den Roman beschließenden Satz: das spät nachgereichte Liebesbekenntnis des Verflossenen. Goeckes sensible Akribie – hier tritt sie deutlich zu Tage. Die junge, um die eigene betörende weibliche Ausstrahlung wissende Kindfrau und die 70-jährige Schriftstellerin Duras (Heidi Lauterbach) werden Eins.
Wie das mit Udo Haberlands Lichtstimmungen und den zwischendrin eingebauten Effekten von Zigarettenqualm – Guerra lässt, einen Glimmstengel pro Hand, mächtig Dampf ab – plus im Lauf versprühter Mehlwolken einmal live in der Staatsoper Hannover wirken wird? Hinzu kommt die bittere Notwendigkeit, nicht noch eine weitere Saison im Lockdown vergehen zu lassen. Daher wurde die Produktion jetzt erstmal gestreamt. Nun steht als echtes, unmittelbar spürbares Feedback für die Künstler noch die Feuertaufe vor dann hoffentlich ausverkauften Rängen aus.
Technische Übertragungsstörungen im letzten Drittel bescherten dem Premierenpublikum der Liveübertragung am 27. Februar 2021 nichtsdestoweniger, wenn auch unbeabsichtigt, etwas von der Einzigartigkeit eines Theatererlebnisses. Plötzlich knallt und scheppert es. Das in seinem dritten und letzten großen Liebesduett intensiv Mund an Mund miteinander verschmelzende Paar (Maurus Gauthier in der Rolle des Liebhabers) und der dazu erklingende 2. Satz von Ravels (be)rauschendem G-Dur-Klavierkonzert zersprengen förmlich. So schlagartig und szenisch passgenau, dass man verunsichert bleibt, ob der fortan wie elektronisch durchschossene, abgehackt leiernde Musikklang ein dramaturgischer, das Finale einleitender Coup ist – oder mitsamt den zeitgleichen Bildaussetzern doch nur eine den choreografischen Fluss abrupt aufbrechende Panne.
Das Erste wäre Goecke durchaus zuzutrauen, vermag er doch über die Auswahl der verwendeten Kompositionen stets für ein adäquat-sonores Ambiente zu sorgen. Seine Tänzer bettet er jedenfalls in eine über ganze Ensemblepassagen, Duette oder Soli tragende Atmosphäre. Die technische Irritation entpuppte sich schließlich als rezeptionelle Sackgasse. Das tatsächlich von Goecke konzipierte Ende kann noch bis zum 27. März auf der Theaterwebsite angeschaut werden – in seiner musikalisch lupenreinen Ausprägung.
Ergänzend zu Ravel und Debussys zentralem „La Mer“ werden die Musiker des Niedersächsischen Staatsorchesters Hannover unter der musikalischen Leitung von Valtteri Rauhalammi in künftigen Vorstellungen dann sogar noch „D’un soir triste“ von Lili Boulanger live beisteuern. Bis dahin bietet die kostenfreie On-Demand-Freischaltung des Premierenstreams eine sonst kaum mögliche Chance: Goeckes herausfordernder Bewegungssprache – sein wesentlichstes Alleinstellungsmerkmal in der Branche – genauer auf den Grund zu gehen ebenso wie der tiefenschürfenden Raffinesse seiner choreografischen Adaption von Marguerite Duras’ Roman „Der Liebhaber“ in allen Facetten ihrer Subtilität und der ganz in die Körper der Tänzer eingravierten Aussagekraft nachzuspüren. Mehr als ein bloßer virtueller Appetizer in kulturarmer Zeit, den man schon allein der tollen Tänzer wegen keinesfalls verpassen sollte!
Goecke ist ein frappant lineares, übersichtliches Werk gelungen, das auf schlicht phänomenale Weise Form, Stilistik und Sprunghaftigkeit der zugrunde gelegten literarischen Vorlage widerspiegelt. Duras՚ erfolgreichstes Buch kam 1984 heraus, wurde 1992 von Jean-Jacques Annaud opulent verfilmt und handelt im Kern von der autobiografisch motivierten, gesellschaftlich unerhörten Amour fou eines 15-jährigen Mädchens mit einem wesentlich älteren Chinesen aus reichem Haus. Genial simpel, wie Goecke in einer schlichten Synchronisierung der Schritte und Raumwege die erste Begegnung und von dem Augenblick an nicht mehr zu trennende Verbindung des Paars visualisiert.
Beiden Protagonisten gemeinsam sind die problembehaftet-verkorksten Beziehungen innerhalb ihrer eigenen Familien wie das Wissen um die zukunftslose Endlichkeit ihres auf Zeit im geheimen Abseits vor allem körperlich ausgelebten Liebesverhältnisses. Sie und das übrige Figurenarsenal – hier die ihrer Aufgabe nicht gewachsene Mutter (Ana Paula Camargo), da der junge, vom älteren Bruder malträtierte Sohn (Giovanni Visone), dessen früher Tod das Zerwürfnis von Mutter und Tochter befeuert, und auf Seiten des Lovers ein unnachgiebig konventioneller Vater (Robert Robinson) mit traditionell angemessener Braut (Jisoo Park) für den abhängig bleibenden Sohn im Schlepptau – bilden eine perfekte Mischung für einen introspektiv arbeitenden Choreografen wie Marco Goecke.
Verhalten gestresst tupft sich sein Liebhaber Gauthier mit einem Tuch Schweiß von Stirn und Nacken. Es ist jener Moment, in dem ihm der Vater die vorbestimmte Partnerin zuführt. Im Kontrast dazu stürzt die Gefühlswelt des Mädchens lautstark in sich zusammen. In einem stotterig herausgeschrienen Originalzitat aus dem Roman prangert sie die Unfähigkeit ihrer depressiven Mutter an. Unmittelbar davor trifft diese ein heftiges einziges Mal gleichzeitig mit allen ihren drei Kindern zusammen. Vier Fotoblitze leuchten auf. Das war’s. Ein kurzes, zuckend und ruckelnd fast schon schauriges Quartett. Vom Innenleben seiner Darsteller ausgehend hat Goecke in seinem bislang fünften Handlungsballett einmal mehr vor allem die innere Bewegtheit seiner Charaktere zum Tanzen gebracht – ohne dabei den Plot der titelgebenden Erzählung aus den Augen zu verlieren.
Aus den knapp 100 Seiten der Erzählung holt Goecke tänzerisch unglaublich viel heraus. Die unterschwelligen Sehnsüchte und emotionalen Extremzustände der psychisch geschädigten Gestalten sind überaus fein profiliert. Besonders hervorgehoben zu werden verdient noch Véronique Segovia Torres als Wahnsinnige. Zuvor war sie als Mitglied des Balletts am Münchner Gärtnerplatztheater bereits eine sehr überzeugende Gelsomina in Goeckes letztem Abendfüller „La Strada“. Zwei weitere Frauenrollen (Michèle Seydoux als Freundin Helene und Lilit Hakobyan als French Woman) lassen sich dagegen auf Anhieb schwerer zuordnen. Ebenso wie die eine oder andere Passage, die sich so oder so interpretieren lässt. Um gut mitzukommen, sollte man die wichtigsten Fakten der Geschichte kennen. Zur Vorbereitung empfiehlt sich das von Nina Hoss eingelesene Hörbuch bei youtube. Dreieinhalb lohnende Stunden. Auch wenn Goecke den Einstieg in die darin ausgebreitete fremde Welt nicht allzu schwer macht.
Ganz am Anfang seines neuen Balletts beschwört er zehn kurzweilige Minuten lang assoziativ das Exotische im Treiben der Männer, Frauen und spielenden Kinder am Mekong. Wunderbar gelungen mithilfe vietnamesischer Gesänge in Aufnahmen aus den 1930er Jahren (CD „Nostalgique Vietnam“). Später murmeln, zischen und raunen die Tänzer vor sich hin, wiederholen mehrmals das Wort „printemps“ – und die im Nachspann benannten River Boys und River Girls verwandeln sich Gruppe für Gruppe in ein Wogen und Wellenspiel des Flusses. Immer wieder trägt die zum jeweiligen Bewegungsduktus erklingende Musik wesentlich zum dramatischen Input bei. Die Systematik seiner tänzerischen Bildproduktion lässt Marco Goecke niemals wirklich abreißen. Deswegen bleibt man sinnlich stets gefesselt.