Foto: „Yester:Now“ von Moritz Ostruschnjak © Franziska Strauss
Text:Vesna Mlakar, am 29. Juli 2021
Moritz Ostruschnjaks Crew ist fit wie ein Turnschuh. Aus Spanien, Polen, Berlin und München wurde sie vom Choreografen bereits zum Ende des Jahres 2020 zusammengetrommelt – für ein Projekt, das überhaupt erst denkbar wurde, weil die Philharmonie im Münchner Gasteig coronabedingt nicht genutzt werden konnte. Als die Kreationsphase damals begann, stürmte ein aufgebrachter Mob gerade das Kapitol in Washington. Derart einschneidende Ereignisse beeinflussten den Produktionsprozess der waghalsig-mitreißenden, aus diversen Elementen gesampelten Show maßgeblich. Vieles davon im World Wide Web gewildert.
Nach Monaten des Wartens kann sich – jetzt endlich – das künstlerisch spektakuläre Amalgam in Slogans, bewegten Bildern und stereotyp-frenetischem Tanz bei der Live-Premiere von „YESTER:NOW“ entladen. Ein hyperaktivistisches Stück – perfekt hineinmodelliert in das riesige Auditorium des leeren Konzertsaals – mit wenigen, dafür sehr effektvoll und virtuos eingesetzten szenischen Mitteln. Etwa 100 auf der Bühne sitzende Menschen konnten dabei sein. Strukturell bestimmend ist das kontinuierliche Stimmungsschüren. Dabei entfalten lediglich sechs Interpreten eine maximale Wirkung. Allein der Aspekt Raumerfahrung kommt schon phänomenal rüber.
Die Titelidee hat Ostruschnjak gemäß seinem Arbeitsprinzip des „Pick & Mix“ bzw. „Cut & Paste“ dem Jazztrompeter Miles Davis abgeluchst. Der erinnerte mit „A Tribute to Jack Johnson“ von 1970 an den ersten schwarzen Boxweltmeister. Darüber hinaus kam dieser zeitgenössische Tanztheater-Abendfüller keine Sekunde ohne gewollte Widersprüche oder ein plakatives Nebenher von Richtig und Falsch respektive Gut und Schlecht aus. Man wird schlicht Teil eines permanenten Ausnahmezustands. Darin frei, aus dem Dargebotenen eigene Schlüsse zu ziehen.
Eine der schrägsten tänzerischen Solonummern zwischen Elvis Presleys „Are You Lonesome Tonight“, Pete Seegers versöhnlichem Protestlied „We Shall Overcome“ und auf Plakate gekritzelten Parolen wie „Welcome cheap Workers“, „Fuck poor people“ oder „Don’t do Evil“ war David Conants Hitlersmiley-Solo. Hier lässt der in jeder Bewegungslage bombige Tänzer mal nur den Kopf, mal den ganzen Körper hinter dem auf ein weißes Rechteck gemalten Strichgesicht verschwinden. Er dreht sich und kreiselt mit dem Plakat umher. Auf dessen Rückseite sieht man das An- und Ausschaltsymbol für Computergeräte. Zuvor torkelt kurz ein Schild mit den Worten „Cancel the Apocalypse“ durch die Luft.
Bevor Gewalt in ihrer abscheulichen Herrlichkeit und trickfilmhaften Absurdität thematisiert wird, marschiert auf einem riesengroßen Schild Mickey Mouse ein. Rein funktional dient der Auftritt der Disney-Figur dazu, eine mobile Leinwand in dem bespielten Raum zu installieren. Über diese flimmern dann Kampfjets, die in Paradeformationen fliegen, oder eine ewig lange Reihe von Soldaten, die sich in Uniform mit Gewehren bei einer staccatoartigen Appellübung in eine famos tanzende Linienformation verwandeln.
Unmittelbar vor Beginn der jahrelangen Generalsanierung des Kulturzentrums an der Isar wird so – in Manier von Protestaktionen für und gegen alles – die Aura der prestigeträchtigen Münchner Philharmonie respektvoll neutralisiert. Es ist ein aufwühlendes Abschiedsevent. Durch Simplifizierung sowie das Herunterbrechen auf Symbole und Metaphern zeigt der Abend verstörend und treffend zugleich auf, wie schwer es sein kann, sich in unserer informationsüberfrachteten Welt zu positionieren. „YESTER:NOW“ jongliert mit dem Wohl und Wehe von Digitalisierung und setzt den Betrachter auf der Suche nach dem Puls der Zeit irren, aus den Untiefen des Internets geholten visuellen Paradoxien aus. Hauptsache aber bleiben die – wie in der eingespielten Passage aus dem Musical „A Chorus Line“ – mit jedem Schritt stets aufs Neue um Aufmerksamkeit buhlenden Performer.
Anpfiff. Das Publikum auf der Bühne der Münchner Philharmonie blickt auf 2400 leere Plätze. Die durch Holzmauern voneinander getrennten Zuschauerblöcke erinnern an eine Festungsarchitektur in Hanglage. Erneut erklingt eine Trillerpfeife. Egal wo man hinblickt, verpufft offenbar lang aufgestaute Energie. Schrille Dynamik entsteht aus statischer Eisigkeit. Übers flache Parkett flirren und schwirren die Tänzer nach allen Regeln der Kunst, arbeiten sich über die Treppen, Geländer und rotgepolsterten Stuhlreihen bis ganz nach oben hinauf. Souverän im Balancieren huschen einzelne wiederholt die schmalen Balustraden zwischen den Sitzblöcken entlang. Dann vereint sich die kleine Schar eigenwilliger Individualisten wieder zum Schwarm. Splitternackt schwappt man gemeinsam gegen eine der Mauern. Sollen imaginäre Barrieren kollektiv eingerissen werden?
Aus dem Nichts zwischen den Sitzreihen tauchen unvermutet Dhélé Agbetou, Guido Badalamenti, Daniel Conant, Quindell Orton, Roberto Provenzano und Magdalena Agata auf. Eine superstarke Mannschaft, die Ostruschnjak hier unter dem pulsierenden Soundmix von Jonas Friedlich auf einer emotionalen Scala von Fühl-Dich-Gut bis zu Nimm-Dich-in-Acht kongenial zusammengeschweißt hat. Zeitweise hört sich der sie herumjagende Orgel-, Blechdosen- und Brüllklang so gruselig an, als würde der Saal selbst, der nach Ende dieser letzten öffentlichen Vorstellungsserie ausgedient hat, schreien.
Je weiter das Treiben voranschreitet, desto weiter arbeiten sich vor Power strotzende Arme, sprechende Hände und flinke, oft breitbeinig vibrierende Beine, vielsagende Gesichter und in motivbedruckte, stylisch-heroische Allroundsport-Trikots verpackte Bodies ins eigentliche Bühnenrondell vor. Bis in die letzte Faser getrieben wird die Truppe von sprühender Lust, Zum-Ausdruck-Bringen-Wollen unterschiedlichster Meinungsbilder, Lifestyle- und Showbiz-Allüren oder von Gegenwarts-Posts. Stets schlagwortartig querbeet mit Hilfe auf Schilder gebannter Symbole und Sprüche aus Protestkultur, Pop, Nonsens, Politik, Kommerz, Religion oder High Tech.
Die Aufführung in der Arena verdichtet sich, als dem Tohuwabohu Videosequenzen aus der unüberschaubaren Komplexität des Weltgeschehens und medialen Verarbeitung von Ballerei und Machtgebaren untergemengt werden. In einer variationsreichen Nummer mit Baseballschlägern suchen die Protagonisten sich gegenseitig zu übertreffen. Der erste singt mit dem Requisit im Mund am Boden liegend tapfer weiter, der nächste schmeißt das Ding nach seiner Zirkusnummer einfach laut krachend auf den Boden. Dann stehen die sechs erwartungsvoll auf ihr Publikum blickend in luftiger Höhe. Bereit zum Sprung in eine neue, bessere Welt. Grandios bis zum Schluss.