Foto: „Das Missverständnis“ von Albert Camus vom Volkstheater Wien in der Regie von Nikolaus Habjan. © Foto: Lubi Spuma Fine Photography, Graz
Text:Ute Grundmann, am 14. November 2016
Fritz will eigentlich nicht über seine Kindheit im Wien der 1930er Jahre sprechen, tut es dann doch, unter Tränen. Die Mutter „delogiert“ (obdachlos), der Vater, den er erst mit zehn Jahren kennenlernt, schwerer Alkoholiker. Deswegen landet Fritz in einer „Kinderübernahmestelle“, schließlich im Heim „Spiegelgrund, wo er einer Art österreichischem Dr. Mengele in die Hände fällt, der mit den Kindern fürchterliche medizinische „Experimente“ durchführt. Das Besondere: Fritz ist eine Puppe, vom jungen Österreicher Nikolaus Habjan bewegt, gesprochen, zum Leben erweckt. Mit seinem dokumentarisch-erschütternden Stück „F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig“ begann die euro-scene in Leipzig.
Das Festival widmete dem brillanten Puppenspieler eine Werkschau mit vier Inszenierungen und einem biografischen Abend zu Leben und Werk („Ich pfeife auf die Oper“). Fritz Zawrels Schicksal ist real, Habjan hat lange mit dem 1929 Geborenen gesprochen: keine Ausbildung, kein Job, Durchschlagen als Kleinkrimineller, nach 30 Jahren von demselben Schreckensarzt mit den selben Worten wieder als „minderwertig“ abgestempelt. Und die Puppe Fritz ist etwas Besonderes: Nur Kopf und Oberkörper, der wie zweigeteilt ist: eine von Habjan entwickelte Klappmaulpuppe, mit Augenbrauen wie Blitze, von Schmerz gezeichnet, aber doch zum Lächeln fähig. Und der Spieler geht mit seiner Figur fast behutsam um: wenige Gesten mit den knotigen Händen, zerschlissen wie alte Handschuhe. Manchmal hält er die Puppe in den Armen, schaut sie intensiv an, während er ihren Text spricht, sie spielt. Und bisweilen sprechen Spieler und Puppe auch miteinander: „Ich lüg dich nicht an“.
Doch Habjan erspart dem Zuschauer in diesem Kraftakt eines Zwei-Stunden-Monologs auch nichts: Die Heimkinder sind weiße Puppenkörper, in deren Gesichtern das Leben noch keine Spuren hinterlassen hat. Ein herrischer Pfleger würgt ihnen Tabletten rein, rammt zur „Sandmännchen“-Melodie Spritzen in die kleinen Körper, faltet und knautscht sie bei Folter-„Kuren“ zusammen. Das stimmt bis in die Details: Der Pfleger trägt militärische Kragenspiegel, der Arzt Dr. Groß ist erst nur ein Kopf auf der Spielerhand, später eine ausgemergelte Gestalt, die sich auf Demenz beruft. Und mit Wochenschaubildern vom „Anschluß“-Jubel kritisieren Habjan und Regisseur Simon Meusburger den Umgang Österreichs mit seiner NS-Vergangenheit: „Ich hab keine Annexion gesehen, das war ein Freudenfest“, sagt Fritz.
Ein bedrückender, aber bejubelter Auftakt zur Werkschau des gerade mal 29-Jährigen. Er ist Puppenbauer, Puppenspieler, Regisseur, Schauspieler und Kunstpfeifer. Bei einem Workshop des australischen Puppenspielers Neville Tranter fand er zu seiner Kunst, studierte anschließend Musiktheater-Regie in Wien. Er debütierte 2008 (mit grade mal 21) am Schubert Theater Wien, das er bis zum Sommer 2016 als Co-Direktor gemeinsam mit Simon Meusburger leitete. Auch diese Produktion „Schlagt sie tot“ hatte Habjan mit nach Leipzig gebracht, ein „bitterböses Puppentheater für Erwachsene“. Da verschlägt es den Herrn Diplomingenieur Bernhard Schwingenschläger in die Seniorenresidenz „Immergrün“, wo ihn alle nur demütigend „Herr Berni“ nennen. Hier umgarnt Schwester Sylvia den angeblich vermögenden, dementen Herrn Diletti, der im Rollstuhl sitzt. Der Heimarzt wiederum macht ihr Avancen und soll ihr helfen, dass Diletti das Zeitliche segnet, rasch. Eventuelle Mitwisser gilt es gleich mit zu erledigen. Dagegen starten Herr Berni und die überdrehte Ex-Opern-Diva Gisela Hering einen Gegenangriff, bis alle, so ist das in schwarzen Komödien, hingemeuchelt sind.
Wieder von Simon Meusburger inszeniert, gibt das ein rasantes Spiel der grotesken Klappmaulpuppen (von Habjan und Manuela Linshalm gespielt), die Figuren fliegen auch mal durch die Luft, es gibt Schreie und Effekte. Dazu passend böse Georg-Kreisler-Lieder und Opernausschnitte. Und der Herr Berni hat für jeden ein böses Wort: Den Pianisten Daniel Nguyen nennt er einen „Chines“, er hat sich auf Leipzig wegen „Legida“, dem hier agierenden islamfeindlichen Bündnis gefreut. Und zur Wahl Donald Trumps fällt ihm natürlich auch etwas ein: „Hauptsache keine Frau“. So verband Habjan schwarzen Humor mit Gegenwartsbezügen, die ihm bei seinen Stücken wichtig sind.
Sein Musiktheaterabend „Doch bin ich nirgends, ach! zu Haus“, nach Schuberts „Der Wanderer nach dem Mond“, gab gleich der ganzen euro-scene den Titel. Geboten wurden 13 Gastspiele aus zehn Ländern, Tanz, Sprech- und Figurentheater, Performance und Kinderstücke. Und die Resonanz auf „Theater und Tanz aus dem alten und neuen Europa“ war groß: 95 Prozent Auslastung. Und nach zwei kleineren Spielorten (Hinterbühne des Schauspiels, Schaubühne Lindenfels) ging es für Nikolaus Habjan auf die große Bühne des Schauspielhauses. Bei der Aufführung von Albert Camus „Das Missverständnis“ (Volkstheater Wien) war er für Inszenierung, Puppenbau und das Spiel der Puppe Martha zuständig, dazu kamen Seyneb Saleh (Maria, die Mutter) und Florian Köhler (Jan). Waren die Puppen im „F Zawrel“-Stück nur Kopf und Oberkörper, gab es hier lebensgroße Puppen mit expressiven Gesichtern, böse und bedrohlich. Sie und die (Schau-)Spieler gaben das Gleichnis vom verlorenen Sohn Jan, der nach Hause in die Pension zurückkehrt, wo Mutter und Schwester ihre Mieter ermorden, um an ihr Geld zu kommen. Die Szenerie von Jakob Brossmann ist verrückt: Ein schiefes Häuschen, eine Hotelrezeption. Und gerade die Puppen machten den sperrigen, bedeutungsschweren Text lebendig, sinnlicher. Und Nikolaus Habjan erweckte Martha, die traurige, frustrierte Tochter, zu Bühnenleben, versteinerte Züge voller Verzweiflung, Wahn und ehemaliger Schönheit.
Nikolaus Habjan erntete viel Applaus, viele Bravos, eine Bereicherung für dieses Festival. Und zur euro-scene 2018 ist er schon eingeladen.