Foto: Holger Falk in "Ein Brief" © Thilo Beu/Theater Bonn
Text:Andreas Falentin, am 9. Februar 2020
Ach, Mensch! Ist es nicht eine großartige Idee, sich heute auf der Musiktheaterbühne mit Hugo von Hofmannsthals berühmten Chandos-Brief zu befassen? Mit der fiktiven schriftlichen Äußerung eines Künstlers, der seine Kunst, seinen Ausdruck, seine Sprache verloren hat, weil er selber, weil alles um ihn herum so satt geworden ist, dass es keine Dringlichkeit, nichts Besonderes, der poetischen Gestaltung würdiges mehr zu geben scheint? Das ist es natürlich, zumal, wenn man einen Sänger zur Verfügung hat wie Holger Falk, der einen mitnimmt, fast hineinzwingt in Hofmannsthals poetischen Endzeit-Sprachdschungel, der seine Stimme bruchlos von der tiefen Baritonlage bis ins Falsett zu führen versteht, der keinen Druck braucht, nie zu laut ist und so präzise und erfüllt artikuliert, dass man jedes Wort versteht.
Und ist es nicht spannend, Beethovens Oratorium „Christus am Ölberge“ einfach mal auf der Theaterbühne auszuprobieren? Zumal, wenn man dafür einen perfekt studierten Chor und das Beethoven Orchester zur Verfügung hat, das unter seinem GMD Dirk Kaftan einem eigenen Beethoven-Stil immer näher kommt? Frisch klingt das, schlank, federnd, nach vorne gerichtet, mit immensem Klangreichtum samt fast lässig herauspräparierten Mittelstimmen, dabei mühelos und durchlässig für Impulse, nie glatt, nie nur pathetisch. Und die Solisten halten das Niveau. Der wie ein Mensch leidende Kai Kluge als Jesus mit seinem etwas schmalen, aber perfekt beherrschten, hochmusikalisch geführtem Tenor, der uns eigentlich ganz nah kommen müsste. Ilse Eerens als „Seraph“, gelegen im ganz hohen, glanzvoll modulierten Sopran, die uns das Paradox einer charmanten, altjüngferlichen Engelsgestalt schenkt. Und Seokhoon Moon als grimmer, schnell gezähmter Petrus mit körnigem, aber angenehm flüssigem Bariton.
Da ist doch alles angerichtet!
Aber Manfred Trojahn hat für den „Brief“ kein Drama geschrieben, sich nicht auf die existenzielle Krise eingelassen. Er hält Distanz zum Text, betrachtet, dreht ihn aus der Ferne. Und so klingt seine „reflexive Szene“ dann auch: geschmackvoll, ausgerichtet auf Differenzierung und Verfeinerung, introvertiert und klar strukturiert. Der Künstler Trojahn kann sehr wohl arbeiten, er erfindet musikalische Bilder, die den Sänger nackt erscheinen lassen – und den Konflikt links liegen, samt seiner Paradoxien, der Engführung von Dekadenz und Askese, der Nähe von Hofmannsthals Zeit zu unserer und alledem. Da kann Holger Falk alles geben, was sehr viel ist, und Dirk Kaftan und das bestens präparierte Orchester können sinnlich und diszipliniert schwelgen, was sie tun. Es hilft nichts. Wir bleiben draußen.
Natürlich auch, weil Reinhild Hoffmann hier fast nichts tut. Sie hat einen dreigeteilten Halbkreis in edlem Grau entworfen und in der Mitte ein großes Buch, auf dem Holger Falk zunächst sitzt, gekleidet wie ein sonderlingshafter Konservativer. Später wird er sich erheben, die Künstlerweste ablegen, noch später sich das Hemd aufreißen. Von der Seite flirrt immer mal wieder rostrot gefärbtes Herbstlaub herein. Der Deckel des Riesenbuches wird auf- und zugeklappt. An einer Stelle werden Körper aus Renaissance- und Manierismus-Gemälden projiziert. Das ist die Inszenierung. Reinhild Hoffmann! Die Tanz-Legende, Antipodin von Pina Bausch, einst Tanztheater-Leiterin in Bremen, für ihre Versuche, dort und später in Bochum Tanztheater und Schauspiel zusammenzuführen, gleichzeitig inhaltlicher und ästhetischer zu werden, sogar mal zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Sie macht hier fast nichts.
Aber bestimmt wird sie „Christus am Ölberge“ aufreißen, das 1803 von Beethoven komponierte Oratorium, dass keine Oper sein durfte, weil gerade Fastenzeit war? Schließlich hat die Regisseurin hier ja neben Chor und Extrachor zehn Tänzerinnen und Tänzer des Folkwang Tanzstudios zur Verfügung. Alle sind in edles Grau gekleidet, stilisiert asiatisch – die Tanzenden –, stilisiert alltäglich – der Chor. Das Geschehen schnurrt ab, ausdrucksfreier, schön anzusehender Tanz wird exekutiert. Der „Seraph“ und Petrus treten aus dem, offen und mühevoll von mehreren Menschen aufgerichteten, Riesenbuch auf und verschwinden wieder in ihm. Die ambivalenten Reaktionen des Chores auf den leidenden Christus könnten uns viel erzählen, auch über unsere Gegenwart, bleiben aber grau und geschmackvoll. Wenn es ans Verhaften geht, tragen Tänzer Masken, Brustpanzer und Speere. Am Ende stellt Jesus sich hinten in die Mitte, Holger Falk liest aus Beethovens Heiligenstädter Testament und der Chor marschiert freudig an der Rampe auf.
Ja, nochmal, es ist wunderbar diese Musik zu erleben, diese fast absurde Schnittstelle von Haydns Oratorien, Mozarts späten Opern, „Fidelio“ und „Chorfantasie“. Und alle musizieren fantastisch, gehen in den dynamischen Kontrasten ans Limit, ohne je zu dröhnen, kriegen eine lange, organische Steigerung am Ende hin. Aber wofür? Wo bleibt das Theater dabei?
Ach, Mensch! Eigentlich, und das ist doch immer mit das Schönste, scheint eine Idee hinter dem Ganzen zu stecken. Hier der Künstler, der nicht mehr Künstler sein kann, da der Mensch gewordene Gott, der nicht mehr Mensch sein darf. Und das im Beethoven-Jahr, dem Jubiläum eines Künstlers, dessen Leben so reich war an existenziellen Paradoxien, dass man hier großartig hätte anschließen können. Aber Reinhild Hoffmann wollte oder konnte genau dieses offenbar nicht. Und entschied sich für eine schlichte Verbeugung vor den beiden Werken, die sie so gleichsam im Archiv belässt. Und genau das halten beide nicht aus.