Molières „Don Juan“ am Schauspiel Stuttgart in einer künstlich-bildhaften Inszenierung von Achim Freyer

Wer ist der Mensch?

Molière: Don Juan

Theater:Schauspiel Stuttgart, Premiere:19.06.2021Regie:Achim Freyer

Im Vorfeld zu seiner Inszenierung von Molières „Don Juan“ hatte der mittlerweile 87jährige Regisseur Achim Freyer das Publikum aufgerufen, doch Texte, Bilder oder andere Materialien zu der Frage „Welche Sicht haben Sie auf Don Juan?“ einzureichen. Diese Frage ist der Schlüssel zu dieser Inszenierung: Wer ist Don Juan? Der gottlose, der verführerische Don Juan, den wir aus der Oper Mozarts kennen oder der Zyniker, zu dem Molière diese Figur macht? Die Antwort der Regie ist klar: Don Juan dient als Projektion für die anderen. Konsequent ist Don Juan in dieser Inszenierung am Schauspiel Stuttgart eine überlebensgroße Marionette, ganz funktional gebaut, nicht besonders schön, mit sichtbarem Material, an vielen Fäden von den Figurenspielerinnen Léa Duchmann und Helga Lázár aus der Höhe unsichtbar für das Publikum geführt. Die Texte des Don Juan werden jeweils von den Dialogpartnern gesprochen: Don Juan spiegelt stets die Wünsche und Sehnsüchte der Anderen. Selbst die Masken, die nach und nach von seinem Gesicht genommen werden, spiegeln jeweils die Vorstellungen derjenigen, die ihm begegnen.

Wie in allen seinen herausragenden Arbeiten schafft auch hier Freyer ein Gesamtkunstwerk, einen Kunstraum, der zugleich funktional und schön ist. Betont wird dabei das Theaterhafte, wenn man will: das Künstliche. Bei „Don Juan“ herrscht zunächst einmal eine strenge Reduktion auf die Farben Weiß und Schwarz. Über einer weiß ausgeschlagenen Schräge, auf der sich schachbrettartige Muster, durchkreuzt von diagonalen Linien befinden, verlaufen drei Drähte, an denen weiße Vorhänge flattern. Auch die grotesken Kostüme sind in diesen Grundfarben gehalten. Aber diese Welt ist nicht nur Schwarz und Weiß. Mond und Sterne strahlen gelb. Dann wiederum tauchen viele bunte Punkte an den Wänden auf. Farbige LED-Röhren markieren Begrenzungen, die hinter der Schräge in die Tiefe gehen. Manchmal wird auf diesem Podest ein Dreieck rot ausgeleuchtet oder ein Quadrat grün. Lichteffekte wie überhaupt Überraschungsmomente sind ein wesentlicher Teil dieser Ästhetik. Da taucht in den Begegnungen von Don Juan mit seinem Vater, Don Louis, den Klaus Rodewald als groteske Ganzkörperpuppe ausspielt, ganz hinten am Bühnenhorizont eine in leicht rötliches Licht getauchte kleine Schlossattrappe auf, wie in anderen Szenen Schiffe, ein Flugzeug oder eine Rakete.

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Diese Effekte bleiben stets dramaturgisch eingebunden, auch wenn sie sehr verspielt erscheinen. Für seine Inszenierung benutzt Freyer eine der ersten deutschen Molière-Übersetzungen, die von Friedrich Samuel Bierling aus dem Jahre 1769, dessen altertümliche sprachliche Wendungen eine zusätzliche Künstlichkeit schaffen. Die Regie hält sich weitgehend an die Handlung, nimmt aber ein paar zusätzliche Eingriffe vor. So wird die große Moralpredigt des Don Louis aus dem vierten Akt, siebte Szene am Anfang gehalten. Damit steht von vorneherein die Frage, wer dieser Mensch ist, im Zentrum der Inszenierung. Die Auftritte der Elvira, der er nach dem Eheversprechen schmählich verlassen hat, sind immer dreifach. Gleichzeitig sprechen Paula Skorupa den Molièretext, Celina Rongen rezitiert Lorenzo Da Ponte, der für Mozarts „Don Giovanni“ das Libretto geschrieben hat, und Josefin Feiler singt eine Arie aus dieser Oper. Im Chaos der Sätze, von denen nur Bruchstücke zu verstehen sind, spiegelt sich der widersprüchliche Gefühlszustand der Elvira. Leitmotivisch setzt er darüber hinaus den Auftritt von Sonntag ein, der sein Geld von Don Juan zurückfordern möchte, aber nicht einmal ansatzweise dazu eine Chance bekommt, was zu immer neuen Auftritten führt. Indem Don Juan zur reinen Projektionsfigur wird, die zudem von ihren Spielführerinnen animiert und manipuliert wird, bekommt eine andere Figur eine ganz andere Bedeutung: Skanarell, der nun als großer Spielmacher auftrumpfen kann. Matthias Leja macht das gekonnt gewitzt mit melancholischem Charme, immer aufmerksam, schon manchmal speichelleckend, aber nur zu seinem Vorteil.

Merkwürdigerweise lotet Freyer die Komik der Bauernebene kaum aus. Mit dialektischen Anklängen, etwa einem leichten Berlinerisch, streiten sich Charlotte (Celine Rongen) und Mathurine (Felix Strobel) darum, wem nun Don Juan sein Jawort gegeben hat, und der Peter des Valentin Richter, der eigentlich der Bräutigam der Charlotte ist, steht tumb daneben. Nicht ganz integriert sich die Ebene der Rächer, die die Ehre ihrer Schwester Elvira wieder herstellen wollen, in diese Spielfassung. Das mag auch daran liegen, dass die Interessen von Don Carlos (Paula Skorupa) und Don Alonso (Valentin Richter) nicht auf Projektion zielen, sondern hier die Handlung eine psychologische Ursache hat. Psychologie interessiert Freyer nicht, ihm ist die bildhafte Bewegung in einem Raum wichtig. Zum Ende dann kommt es zum großen Shutdown: Grabkreuze fallen aus dem Schnürboden, rotes Licht ergießt sich über die Bühne und das Denkmal des Komturs als von Valentin Richter geführte überdimensionale Pappfigur donnert und leitet Don Juans Höllenfahrt ein.

Achim Freyer ist ein großer Theaterabend gelungen. Seine Inszenierungen entwickeln eine große visuelle Kraft: Bühnenbild, Licht, groteske Kostüme haben eine eigene intensive Form, die eingebunden bleibt in spielerisch-verspielte Aktionen. Diese werden begleitet von leisen Akkorden, die auf einer kleinen Gitarre gespielt werden. In die Visualität passt sich die Marionette wunderbar ein, aber funktionieren kann alles nur, wenn ein großartiges Ensemble in voller Präsenz agiert. Und das tut es am Schauspiel Stuttgart.