Foto: Katharina Kurschat, Luana Velis, Komi Togbonou, Sebastian Reiß und Torsten Flassig in "sklaven leben" © Felix Grünschloß
Text:Volker Oesterreich, am 27. Januar 2019
Glaubt man dem Programmheft, dann werden pro Jahr Waren im Wert von 30 Milliarden US-Dollar aus der Produktion moderner Sklaverei nach Deutschland importiert. Damit stehen wir – nach den USA und Japan – gleich an dritter Stelle. Computer, Mobiltelefone und Billigklamotten, aber auch Nahrungsmittel wie Fisch, Kakao oder Zuckerrohr werden von Menschen produziert, die in etlichen Teilen dieser Welt unter äußerst prekären, gesundheitsgefährdeten oder gar lebensbedrohlichen Bedingungen schuften. Das Phänomen Sklaverei prägt fast die ganze Menschheitsgeschichte, der heutige Wohlstand der westlichen Welt wäre ohne sie nicht denkbar. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass diese extreme Form der Ausbeutung all unseren demokratischen Prinzipien widerspricht. Der Verfassung sowieso.
In den Kammerspielen des Schauspiel Frankfurt wird mit Konstantin Küsperts Rechercheprojekt „sklaven leben“ kein plumpes Thesen- und Belehrungstheater geboten, sondern eine atmosphärisch dicht inszenierte und vor allem bildmächtige Performance. Dadurch bekommt Küsperts teils schlagwortartiger Parforceritt von der Antike bis heute und vom Kunstraub während des Kolonialismus, über die Not von Kindersoldaten bis zu Flüchtlingskatastrophen auf dem Mittelmeer eine starke suggestive Wirkung. Und wenn zwischendurch auch noch Vokabeln wie „Sexsklave“ oder „Zwangsprostitution“ fallen, denken die Zuschauer unweigerlich daran, was wenige Straßenzüge weiter gerade in den neonbunten Bordellen des Frankfurter Bahnhofsviertels geschieht.
Angebot und Nachfrage definieren seit jeher den Wert von Waren oder Dienstleistungen. Wer bietet mehr für einen Sklaven? Einen Cent oder gar 50.000? Und bis zu welchen Dumpingpreisen lässt sich ein Mensch in extremer Not drücken? Von 50.000 bis runter auf einen Cent oder auf rein gar nichts? Mit diesem Bietergefecht beginnt der eineinhalbstündige Abend, der als Werkauftrag der „Frankfurter Positionen 2019“ entstanden ist. Amit Epsteins Kostümzauber schillert zwischen Fantasy-Comic und stylischer Modenschau, während zu einem ebenso breiten wie bunt collagierten Soundteppich die Bewegungsabläufe des sechsköpfigen Ensembles choreografiert werden. Jan-Christoph Gockel sorgt als Regisseur für eine tanztheatralische Dynamik, die der letztlich doch recht ausufernden Fakten- und Gedankensammlung Tempo, Drive und ein starkes Rhythmusgefühl geben. Zwischendurch setzen die vielen Tableaux vivants lauter gekonnte Zäsuren. Diese wie eingefroren wirkenden Momente bilden den inszenatorischen Kitt, der die sprunghaft anmutende Materialsammlung zusammenhält.
Erster unter Gleichen ist Komi Togbonou. Das Multitalent mit afrikanischen Wurzeln, das als Musiker und Schauspieler schon mit Nina Hagen, Christoph Schlingensief, Herbert Fritsch oder diversen „Tatort“-Regisseuren zusammengearbeitet hat, beweist eine unglaubliche Bühnenpräsenz. Er ist Anker und Motor des Abends, und wenn er am Ende wie ein großer, karnevalesker Poseidon ein Gummiboot voller weißer Flüchtlinge durch die Fluten geleitet, kehrt er die Verhältnisse um: Nun ist Europa das Armenhaus, in dem sich afrikanische All-Inclusive-Touristen in abgeschotteten Ferienparadiesen von „freundlichen Einheimischen“ bedienen lassen. Nur zu verständlich, dass aus dieser Region des Schreckens die von Torsten Flassig, Christoph Pütthoff, Sebastian Reiß und Luana Velis gespielten Bootsflüchtlinge entkommen wollen: gen Afrika, in eines der gelobten Länder zukünftigen Wohlstands. Dieser Perspektivwechsel gibt der Produktion eine zusätzliche satirische Schärfe, von der sich auch das kräftig applaudierende Publikum mitreißen lässt.