Foto: Nao Tokuhashi in „Narben“ © Bettina Stoess
Text:Andreas Berger, am 5. Juni 2021
Auf den versetzten Bildschirmpaneelen erscheinen die Gesichter der Tanzenden verformt durch die Brüche und Kanten des Holzes. Wie Narben, die sofort Geschichten aufwerfen. „Narben“, soeben am Staatstheater Braunschweig uraufgeführt, ist ein Gemeinschaftsprojekt von Schauspiel und Tanz, inszeniert und choreographiert von Jörg Wesemüller, Gregor Zöllig und Ralf Jaroschinski. Die collagehafte Textvorlage von Katharina Kern überschreibt ihrer Gegenwartsfigur der Dora den mythischen Stoff der Pandora, die als quasi vergiftetes Geschenk des Zeus an die Menschen eine Büchse voller Unheil, aber auch Hoffnung in die Welt gebracht habe. Eine fraglos misogyne Verleumdung alles Weiblichen, die unter der Vernarbung sozusagen weiterschwärt in allen Frauen. Und sich immer wieder auch ganz konkret manifestiert in den Verletzungen, die Frauen von Männern zugefügt werden.
Dora etwa, der ihr Mann eine Pfanne voll heißen Fetts gegen den Kopf geworfen hat. Die Schauspielerin Larissa Semke windet sich zunächst wie die antike Pandora hinter Hank Irwin Kittels Milchglaswänden aus den Seilen, wird dann die sehr konkrete Dora, die sich in Lumpenknäuel wickelt als neuer Schutzschicht für ihre zarte Haut gegen die dickhäutigen Männer. Doch Stich um Stich, stickend am Stoff ihres Lebens, die Wunden zusammenziehend, befreit sie sich und nimmt die Narben als neue Stützen ihres Wesens an. Sehr poetisch hat Katharina Kern dieses Frauenschicksal erfasst.
Die Tänzerinnen und Tänzer laufen anfangs mit eher unspezifischen Gesten zwischen den Wänden herum, nachher kann man dieses Einstechen und Vernähen in den steil nach unten jagenden Armen ahnen. Stark wird es, als nur die Tänzerinnen mit Po raus und breit geöffneten Beinen die von Dora angesprochenen Diskriminierungen zwischen Body Shaming und Anmache vervielfältigen. Wenn sie plötzlich im Gleichtakt die Ellenbogen ausschnellen lassen, die Füße in den Boden stampfen und so Kraft und Willen zeigen, sich nicht mehr misshandeln zu lassen.
Interessant ist das Verhältnis zum Bruder, der die Verletzte nach dem Krankenhausaufenthalt versorgt. Seine Versuche, die Wunden für Schmerzensgeldklagen auszubeuten, lehnt Dora ab. Solche Geschäfte sieht sie als Fortsetzung des falschen Denkens an. Sie braucht die Vernarbung, will sich nicht wieder als Puzzleteil benutzen lassen. Auch nicht als bessere Hälfte neuer konfektionierter Beziehungen zwischen Möbelkauf und Steuererklärung. Stolz zitiert sie Sapphos wunderschön einsames „Ich liege allein“.
Und so lehnt sich die im Milchglaskreis ihre Narben pflegende Tänzerin dem von außen Hilfe anbietenden Tänzer zwar auf den Rücken, will sich aber nicht ganz rausziehen lassen aus dem Kreis, die Narben geben ihrem neuen Selbstbewusstsein Halt. Hier bräuchte der Tanz die Textszene nicht.
Gut dagegen geht Roman Koniecznys starker Monolog voller Selbstvorwürfe als Bruder in Tanz über, wenn er Doras Stickdecke mit dem Fuß anstößt, sich immer mehr in sie hineinwühlt und so Doras Leben zu verstehen beginnt. Die Figur kehrt anrührend als alter Mann (Klaus Meininger) wieder, der nun fast verwirrt nach Dora sucht. Es zeigt sehr schön die Dünnhäutigkeit, die eben nicht ans Geschlecht gebunden ist. Größere Achtsamkeit tut allenthalben not. Der Ausgriff auf die Flüchtlingssituation, wenn die Compagnie „Menschen sind keine Welle“ skandiert oder über die Wände klettert, verläuft trotzdem zu plakativ.
Stärker sind die psychologischen Untergründe, wenn etwa Dora von den Eltern spricht, die man in seiner Haut mit sich trage so wie die einst die ihrigen. Da ergibt sich ein wunderschönes Défilé des Ensembles, die Hände wiegend am Bauchnabel, dann sich weich hüllend über die Schulter legend: ein ganz anderes Bild von nicht geschlechtsspezifischer Weiblichkeit als Pandoras Büchse.
Oder wenn die über den Boden rollenden, rutschenden Körper in Endlosschleife wie bei Guilherme Botelhos „Sideways Rain“ tatsächlich eine bergende Landschaft ergeben, in der zum Beispiel der alte Mann sterbend aufzugehen sucht. Ein Bergen, das Dora Kraft gibt, der Angst vor dem Täter zu widerstehen, den Kopf aus Pandoras Schoß zu ziehen, den Mythos vom Unheilsfass zu beenden, sich nicht mehr zu vergraben, sondern klar und dünnhäutig für sich und eine neue Gesellschaft einzustehen. Zart in Stimme und Wesen, doch energisch verkörpert Larissa Semke dieses neue Selbstbild gewinnend.
Die Gewichte zwischen Tanz und Text sind nicht immer gleich verteilt in diesem Projekt. Längst ja ist Sprache als Ausdrucksmittel im Tanztheater etabliert. Tänzer können das am besten, wenn sie ihre eigenen Texte beglaubigen. Eher kann Tanz dem Schauspiel eine atmosphärische emotionale Dimension öffnen, wie im Braunschweiger Vorgängerprojekt „Als wir träumten“. Diesmal integrieren sich vor allem Schauspieler und Schauspielerin in die Tanz-Compagnie. Aber das Ensemble schafft letztlich überzeugend eine aus dem Unterbewusstsein der Verletzung aufdämmernde Stimmung zwischen Traum und Gedankenarbeit, die neue Hoffnung gebiert.