Als Opernstoff ist das, was der Carmen-Schöpfer zum Libretto von Francois-Hippolyte Leroy und Henri Trianon komponiert hat, auch heute noch ein gefundenes Fressen. Ganz gleich, ob nun mit oder ohne einer bewussten Spiegelung ins 20., von roten Zaren dominierte Jahrhundert oder gar in die Gegenwart.
Mehr als nur Lokalsound
Was von Bizet überliefert und von Howard Williams 1975 zu einem spielbaren fünften Kurz-Akt ergänzt und orchestriert wurde, hat trotz seiner Spieldauer von „nur“ knapp dreieinhalb Stunden das Grand-opéra-Format, das dem Titel hinzugefügt ist. Der zur östlichen Flanke der europäischen Geschichte gehörende Plot ist mehr als nur vom echten „Ivan Grosny“ (1530-1584) und dessen prekärem historischen Image inspiriert, die sonderbare Liebesgeschichte, die sich trotz der Entführung der Fürstentochter eines gerade eroberten Kaukasus-Volkes bei der Braut für den Zaren entwickelt, der ehrgeizige Bojar, der sich im Kreml selbst auf den Zarenthron intrigieren will, vor allem die jederzeit möglichen jähen Wendungen der psychischen Verfassung des Herrschers – das ist per se eine spannende Geschichte.
Und sie ist von Bizet jenseits von russischer Folklore mit großartigen Melodien, fein verschlungenen Duetten und Ensembles sowie aufrauschenden Chören für eine staatstragende Kulisse ausgestattet worden. Samt herausfordernder Partien! Dass diese von den Großen seiner Zeit inspirierte, aber doch originäre Musik ein Herzensanliegen für den ehemaligen Meininger GMD Philippe Bach war, hört man dem präzisen und stets ausgewogen mit den Protagonisten verflochtenen Spiel der Hofkapelle durchweg an. Es ist großartig, wie sie sich allesamt auf einem für eine solche Rarität gebotenem Niveau schlagen.
Das fängt an beim dräuend dreinblickenden, stimmstarten Tomasz Wija in der Titelpartie und bei Shin Taniguchi als seinem Widersacher Yorloff. Auf der Gegenseite machen Paul Gay als Tscherkessenfürst Temrouk und Alex Kim mit tenoraler Power als dessen Sohn Igor vokal eine blendende Figur. Sozusagen zwischen den Parteien glänzt Mercedes Arcuri als hinreißend zwischen ihren Identitäten als Tscherkessenprinzessin und Zarin zerrissene Marie. Auch jede kleinere Rolle ist erstklassig besetzt, und zumindest stimmlich hat Manuel Bethe auch den erweiterten Chor auf Vordermann gebracht. Musikalisch ist das Ganze als belcantistische Grand opéra ein Prachtstück, das auch szenisch einiges an Interpretationspotenzial bietet.
Zwingende Aktualität
Regisseur und Ausstatter Hinrich Horstkotte stellt seinen Kreml als einen düsteren Bretterverschlag auf die Bühne. Angedeutete Säulen, ein Brautbett, eine Tafel – mehr braucht es nicht. Dabei enthält er sich jeder platten, wohlfeilen Aktualisierung. Wenn sich die riesige Türen öffnen, muss man gleichwohl an die goldumrahmten TV-Auftritte des gegenwärtigen Kreml-Herrn denken. Der als Bühnen-Metapher längst eingebürgerten, putinesken XL-Tafel fügt Horstkotte eine originelle Variante hinzu: Bei ihm ist sie zu einer Schräge thronabwärts mutiert, sozusagen zu autokratischer Kenntlichkeit entstellt. Horstkotte hat den ausgestellten byzantinisch orthodoxen Glanz, den die Zarenherrschaft seit Ivan rahmt, auf schwarz-graue Nüchternheit heruntergebrochen. Nur Zarenkrone und Ornat heben sich hier von der uniformgrauen Umgebung ab. Dass die Tscherkessen mit ihren weißen Zipfelmützen und die schwejk-ähnlichen Uniformen der Soldaten anfangs unfreiwillig komisch wirken, verliert sich mit der Zeit.
Am Ende dominieren die starken Auftritte der Protagonisten. Natürlich macht der Anfall von Wahnsinn, der den Zaren zu Boden wirft ebenso einen besonderen Effekt, wie sein Auftauchen am Ende. Bei plötzlich wieder gefundener Stärke (beziehungsweise Verstand) und in der Maske des Scharfrichters verhindert er in letzter Sekunde die Hinrichtung seiner Frau und ihres Bruders und fegt den Putschisten Yorloff wieder vom schon sicher geglaubten Thron. Das am Ende, in einem szenischen PS zur Stunde, das mit einem weißen Tuch bedeckte Volk mit den ukrainischen Farben überblendet wird, wäre garnicht nötig gewesen, um die Relevanz dieser packenden Opernstudie über unkontrollierte Macht und deren Gefahr für Verstand und Leben zu demonstrieren.
Jubel für eine Bizet-Oper, wie sie hierzulande vorher nie zu hören war. Man kann nur hoffen, dass sich viele Operndirektoren nach Meiningen aufmachen. Zu neuen Ufern in Sachen Bizet-Repertoire!