Foto: Regine Seidler, René Schubert, Frederic Phung und Jens Mondalski © David Baltzer
Text:Manfred Jahnke, am 22. März 2018
Frank Panhans inszeniert am Berliner GRIPS einfühlsam „Magdeburg hieß früher Madagaskar“ von Zoran Drvenkar
Wie schnell rutscht einem die Hand aus, wenn man genervt vom Streit mit dem Ehepartner dann auch noch von seinem eigenen Kind Vorwürfe hört? Seit 2000 betont der Gesetzgeber, dass Kinder „ein Recht auf gewaltfreie Erziehung“ haben, die körperliche Bestrafungen und seelische Verletzungen ausschließen.
In „Magdeburg hieß früher Madagaskar“ von Zoran Drvenkar bekommt Lars Bachmann nach einem Ehestreit ein blaues Auge. Sein bester Freund Frankie, der, als er abgewiesen wird, über das Fenster einsteigt, kann keine Ungerechtigkeit in dieser Welt akzeptieren. Deshalb zieht er bei Lars ein, bis sich dessen Probleme gelöst haben, zumindest so, dass Mutter und Sohn wieder angstfrei miteinander sprechen können. Drvenkar führt einfühlsam vor, wie vom ersten Fluchtgedanken bis hin zur Versöhnung die Stufen einer solchen Katharsis verlaufen. Dabei stehen nicht die psychologischen Prozesse im Zentrum des Stücks, sondern die Freundschaft zwischen den beiden Jungen.
Ein durchaus ernstes Thema. Wenn man Kindern ab sechs Jahren von häuslicher Gewalt erzählt, braucht es Strategien, um eine solche Geschichte erträglich zu machen. Entscheidend ist in diesem Stück die Ebene der Freundschaft, auf der sich zwei junge Menschen treffen: Der eine, der gerade ein blaues Auge hat, und der andere, der fest daran glaubt, dass er allen Ungerechtigkeiten in dieser Welt begegnen kann – und so handelt. So paradox oder zynisch es klingen mag, genau hier entwickelt Drvenkar mit dieser Konstellation auch eine Komik, die die Geschichte für zuschauende Kinder erträglich macht.
Frank Panhans hat in seiner Uraufführungsinszenierung diese Komik noch verstärkt, indem er in vielen Szenen eine ins Surreale gehende Slapsticktechnik entwickelt, die an Buster Keaton oder Charlie Chaplin erinnert. Zusammen mit schnellen Bewegungschoreografien u.a. bei den Umbauten, wo mit akrobatischen Einsätzen die drei Bühnenwände verschoben werden, lassen die komischen Spieltechniken eine wunderbar naive Spiellust zu. Wobei auch die Videozeichnungen von Silke Pielsticker, die traumhaft die exotische Tierwelt Madagaskars (oder der Welt, ich habe nicht gegoogelt, ob es Nashörner auf Madagaskar gibt) an die Wände zaubert oder die gezeichneten Straßenszenen, wenn Lars und Frankie, als sie abhauen, Anhalter spielen. Das ist von absoluten Witz, wenn sich Video und Szene ineinander überblenden, René Schubert nacheinander als Punker, verständiger Greis oder Polizist mit Lenkrade auftritt, während das in Umrissen gemalte Auto in einer der Öffnungen der Wände Halt macht. Und dann plötzlich eine Schildkröte auf der Leinwand den Autos folgt.
Die Bühne von Jan A. Schroeder zeichnet sich durch eine hohe Abstraktion aus, am Anfang eine hohe Kiste im szenischen Zentrum und eine kleine längliche nach links gerückt, in der die Requisiten für das Spiel aufbewahrt sind, am linken Rand ein Klavier, der Ort für Nina Schwartz, die nicht nur den Rhythmus des Spiels vorgibt, sondern auch als Mutter von Frankie schauspielerisch brilliert. Spannend, wie sie liebevoll ihren Sohn unterstützt. Den spielt Frederic Phung mit so einer explodierenden Spielfreude, dass man ihm zutraut, wirklich die Welt retten zu können (was man doch jedem Kind wünschen möchte). Jens Mondalski führt als Lars vor, was es macht, wenn man das Vertrauen in die erziehenden Erwachsenen verliert. Vom Schämen über die Wut auf die Verhältnisse, wie sie sind, bis hin zur Fähigkeit verzeihen zu können, kostet er alle Facetten seiner Rolle aus. Regine Seidler schließlich spielt die Mutter, die zwischen Überforderung, Versagen und Liebe wieder zu ihrem Sohn findet.
Was am Grips in Berlin zu sehen war, ist eine spannende Inszenierung, die mit einem genauen Gespür für die Komik von Vorgängen nicht deren psychologische Tiefe unterschlägt, sondern – im Gegenteil – verstärkt. Und ohne Zeigefinger!