Raina Hebel, die langjährige Leiterin der Ballettklasse der Aalener Musikschule, als Lady Capulet

Wenig Worte, kaum Balkon

William Shakespeare: Romeo und Julia

Theater:Theater Aalen, Premiere:02.10.2020Regie:Tina Brüggemann

Die Aufführung trat ein wenig hinter den Anlass zurück – und scheint doch wie für ihn gemacht. Mit „Romeo und Julia“ eröffnet das Theater Aalen seine neue Heimat, den Kulturbahnhof. Das Gebäude wurde bereits 1864 errichtet, war lange der Verwaltungsbau eines Bahnbetriebswerk, das in den 50er-Jahren zum Ausbesserungswerk wurde und unter dem Namen „Aaalener Reparatur“ zumindest unter Bahn-Interessierten überregionale Bedeutung erlangte. Irgendwann wurde es dann außer Dienst gestellt und brannte 2013 sogar teilweise ab. Jetzt ist es für vergleichsweise geringe 26 Millionen Euro wirklich schick restauriert worden und beherbergt zukünftig das Theater, die städtische Musikschule, ein Programmkino, einen Probensaal für das städtische Orchester, einen Veranstaltungssaal mit Kirchenorgel und ein großzügiges Foyer-Café. Und es ist, abgesehen von einigen Kleinigkeiten und erst auf die letzte Minute, aber immerhin rechtzeitig fertig geworden. Und, sozusagen als Zugabe, vielleicht aber auch als eigentliche Idee, entsteht drumherum ein sechs Hektar großes Wohnviertel, durchmischt mit Dienstleistungsgewerbe und Gastronomie, mit einer Kita und einem Hotel – ein urban, fast großstädtisch anmutendes, Stadtoval genanntes Vorhaben, dass verschiedene Stadtteile miteinander verbinden und so auch dem einst durch ein verwaltungskonzept aus mehreren Dörfern und Kleinstädten zusammengefügten Aalen zu einer neuen städtischen Identität verhelfen soll – mit der Kultur im Zentrum!

Man bedarf dieser Informationen, um die „Romeo und Julia“-Inszenierung von Tina Brüggemann zur Gänze zu würdigen. Ein roter Steg trennt Bühne von Tribüne. Auch rechts und links von ihm sitzen Menschen. Alle tragen Masken, denn die Tickets für das Eröffnungswochenende wurden teilweise schon vor einem Jahr verkauft. Und der auch für die Raumkonzeption verantwortliche Intendant Tonio Kleinknecht wollte niemanden wieder ausladen. Mitten auf dem Steg liegt eine rote Rose, genau da, wo später Romeo und Julia sterben werden.

Tina Brüggemann spielt hochintelligent mit den Symmetrien in Shakespeares Stück. Links sitzt Benvolio (Philipp Dürschmied) als emotionaler, aber handlungsschwacher Chronist der Handlungsoberfläche auf einer Schaukel, rechts fläzt sich der Fürst (Arvid Klaws) als Weißclown auf einem Podest, fühlt sich nicht verantwortlich und will nur seine Ruhe haben. Bruder Lorenzo (hier ohne Not Schwester Lorenzia) und die Amme werden durch die intelligente Gestaltung von Diana Wolf zusammengeführt und siehe: Der weltfremde Theologe, Philiosoph, Philantrop und Wissenschaftler und die komisch selbstsüchtige und sich doch verantwortlich Fühlende sind überraschend nahe beieinander.

Der Clou der Aufführung sind die Montagues und Capulets. Street Dance tanzen die ersten, klassisches Ballett die zweiten, vier gegen vier, dazu Paris (gespielt von Brian Fischer, Chef derAalener Ballettschule Fischer), Tybalt (Elena Wirth) und Lady Capulet (Raina Hebel), beide Choreographinnen der städtischen Musikschule, der auch ihre Mitstreiterinnen entstammen. Auf der anderen Seite Mercutio (Patrick Gutensohn), wie sein „Team“ Absolvent der Street-Dance-Academy Keraamika, gleichfalls in Aalen angesiedelt. Sie alle sprechen (fast) nicht, sie bewegen sich. und sie tanzen.Und erzählen dabei. Bernd Brunk (Percussion) und Mona Weingart (Akkordeon), phantastische Musiker beide, sorgen für den Soundtrack, bekannte Ballettmusiken von Tschaikowsky und Prokoffieff, weiter Klassikhits, aber auch Tarantella-artiges und HipHop-Riffs – die Musik ist so lebendig wie das Spiel aller Beteiligten. Es ist zu spüren, wie wichtig jedem, jeder einzelnen sein Part ist und dass es noch wichtiger es ist, dass sie es alle gemeinsam tun.

Die klaren inszenatorischen Linien machen es einfach, die tragische Geschichte von Romeo und Julia zu erzählen – unter weitgehender Umgehung des Balkons und mit einer von Blacks unterbrochenen Posen-Dramaturgie in der Vogel-Szene („Es war die Nachtigall…“). Wir Publikum identifizieren uns dabei mit Julia. Julia Sylvester nimmt uns unaufdringlich aber unausweichlich mit auf ihrer Reise durch Liebe und Leid. Sie hat eine ganz klare Figur geschaffen, von umwerfend natürlicher Künstlichkeit und von ganz entspannter, geradezu erwachsener, in jedem Moment glaubwürdiger Jugend. Ihr Romeo Manuel Flach hat es da schwerer. Was teilweise am Text liegt, die Figur fängt ja eher unsympathisch an, teilweise in seinem Umgang damit, teilweise aber auch an seinem Kostüm. Annette Wolf hat generell eine glückliche Hand an diesem Abend, mischt klug und phantasievoll Altes mit Neuem, oft mit witzigen Übertreibungen. Nur ihr Romeo scheint dem Renaissance-Kitsch-Katalog entstiegen, mit dem braven Kragen, den hübschen Ärmeln und den weißen Wadenstrumpfhosen. Warum nur ist er kein Street-Dance-Montague mit Gecken-Accessoires?

Das ist ein kleiner Einwand, zugestanden. Auch der eine oder andere Dialog hätte in diesem Umfeld noch knapper ausfallen dürfen. Aber schön ist diese Aufführung. Und lebendig. Sie spritzt fast vr Lebendigkeit. Was sich auch auf den Aalener Oberbürgermeister übertrug, der nach Ende der Aufführung noch im Theatersaal und ohne jede Mikrophonierung – die Akustik ist hervorragend – seiner Begeisterung Ausdruck verlieh und zum Feiern aufforderte.

Zumindest aus kultureller Sicht scheint Aalen schon am ersten Abend des neuen KUBAA, so kürzt man hier die Location Kulturbahnhof ab, ein neues Zentrum gefunden zu haben.