Foto: "Nahod Simon" als Stationendrama vor schwarzem Hintergrund. Ensembleszene mit Piotr Prochera, Marie-Helen Joel, Balkan-Banda und E. Mark Murphy als singendem Hund © Pedro Malinowski
Text:Andreas Falentin, am 30. Mai 2015
Der bis ins Mittelalter zurück reichende, als Volkslegende bewahrte Stoff hat in den Balkan-Ländern eine Bekanntheit und ein Renommee wie hierzulande wohl nur der „Faust“. Es ist die Geschichte eines doppelten Inzests. Simon ist der Sohn von Bruder und Schwester. Seine Mutter setzt ihn im Fluss aus, Mönche finden ihn und ziehen ihn auf, er zieht durch die Lande, sucht einen Platz im Leben und immer wieder die „Güte“. Einzig Frauen zeigen sich ihm freundlich, eine junge, die von ihrem Mann geschlagen, eine alte, die von ihren Söhnen erst verlassen, dann ausgenutzt wird. Schließlich eine ältere, einsame Frau. Man verliebt und liebt sich. Sie ist seine Mutter, wird wahnsinnig und verschwindet. Simon wird zum Eremiten, um Buße zu tun. Nach vielen Jahren heilt er seinen schwer kranken Vater, ohne ihn zu erkennen. Ödipus, Moses und Peer Gynt, Hartmann von Aue und Thomas Mann grüßen von fern. Eine wilde, universelle Geschichte.
Michiel Dijkema erzählt sie als kleinteiliges Stationendrama in Julia Reindells heutigen Kostümen und eigener, ausschließlich analoger Ausstattung, die Hochpräzisionsarbeit von der Backstage-Crew verlangt. Ständig wird umgebaut, werden Versatzstücke vor schwarzem Hintergrund verschoben und ausgetauscht, Klischees zu Symbolen aufgebauscht und beängstigend nahe am Kitsch entlang geführt. Dorthin abgeglitten wird aber selten. Durchaus ein Verdienst.
Bereits vier Werke für das Musiktheater hat Isidora Zebeljan geschrieben, einiges an Orchester- und Kammermusik sowie Filmmusiken, unter anderem für Patrice Chereau, Emir Kusturica und Goran Bregovic. „Nahod Simon“ ist bekennender Crossover, birst vor Folklore- und Weltmusikelementen. Immer wieder stürmt eine fünfköpfige Banda die Bühne, gewandet in grell überspitzte Frauentrachten, und übernimmt die musikalische und dramatische Führung mit Akkordeon, Dudelsack, Percussion und „Volksflöten“. Die Rhythmen stampfen, die Musik kreist eckig um sich selber und gebiert erstaunliche, auf Opernbühnen wohl kaum je gehörte Klangfarben. Die Singstimmen werden deklamatorisch geführt, nach slawischer Tradition von Mussorgsky bis Schostakowitsch. Gelegentlich entstehen aus dem Nichts, in gehetzter Chromatik, atemlose Miniaturmelodien und tauchen wieder ab ins harmonische Nirwana. Ruhepunkte setzen nur die wenigen Monologe. Piotr Prochera artikuliert Simons Orientierungslosigkeit mit frei strömendem, pianofähigem Bariton, Dimitria Kalaitzi-Tilkidou offenbart als junge Anna und Traumerscheinung vielversprechendes Mezzo-Material und Gudrun Pelker beeindruckt in der Wiedererkennungsszene mit einem dramatischen Ausbruch.
Als Ganzes bleibt sie uns fremd, diese Musik. Obwohl Ensemble, Chor und Orchester grandios arbeiten und Valtteri Rauhalammi den Klang anschärft, wo es möglich ist und ihn vor allem nie klumpen lässt. Vielleicht liegt es daran, dass Zebeljan und ihr Librettist Borislav Cicovacki, der die Banda als Oboist bereichert, die Geschichte nicht wirklich gestalten, sondern eher an ihr entlangklettern, dass die Temporelationen arg statisch bleiben und den dramatischen Fluss hemmen. Oder dass man kaum 2000 Kilometer entfernt von hier Musik eben völlig anders macht und erlebt. Wir sollten neugierig bleiben!