Foto: In der kalten Götterwelt. Freyja (Johanna Bantzer) sieht auf die Weltesche und die Götterkollegen © Katrin Ribbe
Text:Andreas Falentin, am 16. März 2018
Die Edda als uraltes und doch sehr heutiges Spektakel, fantasievoll und stringent inszeniert und großartig gespielt in Hannover.
Neblig ist es im alten Island. Im Hintergrund flackert es. Man stellt sich ein Torffeuer vor. Schemenhafte Gestalten sitzen, kauern, hängen herum. Die Weltesche liegt tot am Boden. Eine einsame Astgabel weist gen Himmel. Es ertönt Musik – und eine Stimme. Ein fast filmischer Beginn ist das, auf den Susanna Fernandes Genebra aufsetzt mit der Völuspá, der Weissagung der Seherin aus der sogenannten Lieder-Edda. Brillant rezitiert sie diese Vision einer Welt von Anfang bis Ende, in der sich immer wieder Lücken auftun, schwarze Löcher im Raum-Zeit-Kontinuum aufreißen, und doch mitreissend vorwärts gedrängt wird. Atemlos der sprachlichen Prachtentfaltung folgend und um inhaltliches Verständnis ringend, bringt der Zuschauer diese erste Viertelstunde zu. Manchmal allerdings drängt sich die von Gabriel Cazes gemeinsam mit dem Ensemble performte Musik in den Vordergrund, behauptet Gleichberechtigung, überlagert den Text – ein Hinweis auf die einzige Gefährdung dieses außergewöhnlichen Theaterabends, ein Zuviel an sinnlichen und gedanklichen Reizen und Anreizen, ein Zuviel an Honig auf dem an sich schon schmackhaften Brot.
Nach der Volüspá referieren die Nornen den Entstehungsmythos dieser Welt. Dann lernen wir die Götter kennen – Odin (Hagen Oechel) mit seinem Speer und seinem fehlenden Auge, die schöne, erdverbundene Freyja (Johanna Bantzer), schließlich Thor (mit jugendlicher Transgender-Wucht: Sarah Franke) und Loki. Den gibt Philippe Goos als brillant nölige Studie des großen Außenseiters, der sich genauso wenig entscheiden kann wie alle anderen, ob und wie er wo dazugehören soll, will, darf. Ein Freigeist als Korrektiv und Nemesis einer geregelt regellosen Gesellschaft, die ihre Gesetze hat und doch vom Recht des Stärksten beherrscht wird.
In dieser Welt gibt es keine Angst vor dem Tod, also auch keine Bezogenheit auf ein Ende hin. Weit und offen ist der Raum von Wolfgang Menardi, nach oben begrenzt von einer Skulptur paralleler, mit Neonleuchten versehener Metallstäbe. Die können herunterfahren und die Welt auf Zwergengröße verkleinern, können in Wellenbewegung mäandern oder steile Pyramidenwände bilden. Ständig ändert diese Welt ihre Form, wird einer geboren, den es schon gibt, wird einer betrogen, der doch schon gewonnen hatte. Und alle hat Karen Briem in wilden, ungeheuer theatralisch gedachten Trash gewandet. Diese Mischung aus den alten Geschichten in übertragenem Originalklang mit Improvisationen aus der dreimonatigen Probenphase und Einsprengseln auf Isländisch, Althochdeutsch oder in dadaistisch anmutenden Mischformen aus allem trägt mühelos über zwei Stunden – bis zur Pause. Zwar wird in Thorleifur Örn Arnarssons Inszenierung hier und da ein wenig schwammig oder hemdsärmelig erzählt, der eine oder andere Einfall zu sehr ausgewalzt, die eine oder andere Metaebene zu viel besprungen, aber alles ist großartig gespielt, lebt, ist schön. Und vor allem nicht alt. Wir hören unser Heute darin.
Nach der Pause ist alles anders. In der letzten Szene davor war es um Thors Hammer gegangen. Der war gestohlen und wiederbeschafft worden. Von Riesen. Und um das zukünftig zu verhindern, haben die Asen eine Mauer um ihre Stadt gebaut. Und die Riesen mussten sie bezahlen. Und es wäre nicht unbedingt nötig gewesen, Donald Trump auftreten zu lassen. Wir hätten sie wohl auch so verstanden, die Parallele.
Jedenfalls ist der Raum jetzt durch weiße Stoffbahnen begrenzt. Und ein Metallgerüst kreist unermüdlich. Und etliche Figuren erscheinen in merkwürdige Fatsuits gesteckt. Mangel an Bewegung? Folgen von Inzest? Von Mangel an Frischluft? Und es tauchen Embleme auf, historischer Zivilisationsschrott: die römische Wölfin, eine Madonna, tote Kormorane, ein Reclamheft. Es gibt auch keine nett aufgelösten Episoden mehr, sie werden nur noch angerissen. Dafür tritt etwas anderes in den Vordergrund. Der Autor Mikael Torfason hat die Geschichte des Sterbens seines Vaters aufgeschrieben. Diese dominiert, rezitiert von Hagen Oechel, nun die Szene. Sie bindet alle Motive des Abends zusammen: Tod, Schmerz, Tragik, die leidenschaftlich angenommen werden und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Denn dieser Vater hat, nach traumatischen Erlebnissen mit dem Protestantismus und den Zeugen Jehovas, zu Odin, Thor und Freyja gefunden – am Ende des 20. Jahrhunderts. Das Ende ist dann ähnlich wie der Beginn: eine große Erzählung mit Susanna Fernandes Genebra. Baldurs Tod, das Ende des Götterglücks. Danach weitet sich der Raum noch einmal ins Unendliche, ein Heer von Technikern drängt hinein und räumt auf wie mehrfach zuvor schon, und am Ende leuchtet von der Hinterbühne ein isländischer Satz in den leeren Raum. Er könnte lauten „wir sind in äußerster Not!“ Aber wir wissen es nicht genau.