Foto: Traumspiel im Totholz - "Ödipus auf Kolonnos" als dritter Teil von "Thebans". Yannick-Muriel Noah (Antigone) und William Dazeley (Ödipus) © Thilo Beu
Text:Andreas Falentin, am 3. Mai 2015
Die antiken Familienstoffe sind zurzeit beliebt wie selten zuvor auf unseren Bühnen. In jüngster Zeit haben John von Düffel und Simon Stone auf ganz unterschiedliche Weise die „Orestie“ gekürzt, verdichet und an die Jetzt-Zeit angedockt. Der englische Komponist Julian Anderson und sein Librettist, der renommierte Dramatiker Frank McGuinness („Factory Girls“), haben jetzt Sophokles‘ drei bekannte Labdakiden-Dramen zu einem Opernabend von nicht einmal drei Stunden Länge eingedampft. Geht denn das?
Der erste Akt, „Ödipus“, scheint zumindest einige Befürchtungen bereits gültig zu bestätigen. McGuinness und Anderson konzentrieren sich auf die Erzählung der Fabel und haben Sophokles‘ analytische Monologstruktur wenn nicht aufgebrochen, so doch aufgeweicht und etliche Gedankenstränge zugunsten der Expositionsvermittlung und Handlungsstringenz deutlich verkürzt. Dazu macht Pierre Audi, der langjährige Intendant der Nederlandse Opera, seinem Ruf als Regisseur alle Ehre. Wir sehen handwerklich durchgefeiltes Schreit- und Posentheater mit überstilisierter Gestik und fast kunstgewerblich wirkender, erlesener Optik. Auch William Dazeley gelingt es trotz klangschönen, geschmeidig geführten Baritons noch nicht, dem Zuschauer die Titelfigur emotional zu öffnen. Bleibt die stets auf die Szene bezogene, so variantenreiche wie dezente Musik mit eindrucksvollen in sich geschlossenen Nummern, etwa einem tobenden Duett zwischen Kreon und Ödipus, einem basssatten Wutausbruch des in Frauenkleider gewandeten Tiresias (Rolf Broman) oder dem Botenbericht zum Aktschluss, den Jakob Huppmann mit flexiblem Countertenor überaus prägnant vorträgt.
Eine Sensation ist der zweite Akt. „Antigone“ als 25-minütiges Konzentrat, ein mit überbordender Klangfantasie atemberaubend stringent gestaltetes Psychogramm eines überforderten Machtpolitikers. In einer Kaskade aus Viertelnoten – andere Werte werden nicht gesungen – wird Kreon, die negative Hauptfigur in „Thebans“, gnadenlos bloßgestellt. Der grandiose britische Charaktertenor Peter Hoare beginnt den Akt mit einem hochsuggestivem A-Capella-Monolog, wird mit der Würde Antigones und der Integrität seines Sohnes konfrontiert, und steigert sich, vom Chor immer wieder gemahnt, in einen Machtrausch mit dem bekannten, überaus grausamem Erwachen. Den dritten Akt schließlich, „Ödipus auf Kolonnos“, hat Audi als eine Art Traumspiel im Totholz inszeniert, wohl auch, um den Bruch der Handlungschronologie (eigentlich müsste „Antigone“ das Schlussstück sein) suggestiv zu nivellieren. Allerdings findet der Regisseur kein Mittel, um die blanke Brutalität in Gedanken und Taten, die außer Antigone hier alle Figuren auszeichnet, theatralisch fassbar zu machen, zumal die Kostüme – Faltenwürfe und edlen Decken – den Endspiel-Charakter des Geschehens nahe an die Lächerlichkeit rücken. Dafür lässt Audi den Sängern viel Raum. Und die verstehen ihn zu nutzen. William Dazeley führt Ödipus‘ Leid, Verbitterung und Resignation genauso ergreifend vor wie Yannick-Muriel Noah mit leuchtkräftigem, urgesunden Sopran die abschließende Klage der Antigone.
„Thebans“ ist eine Koproduktion des Theaters Bonn mit der English National Opera in London, wo vor einem Jahr die Welturaufführung stattfand, wirkt aber frisch und neu. Das ist sicherlich auch und vor allem dem jungen Kapellmeister Johannes Pell zu danken, der die bunt schillernde, sehr theatralische Partitur glänzend disponiert und überaus differenziert auffaltet. Das Beethoven Orchester und vor allem der Opernchor zeigten sich den anspruchsvollen und dankbaren Aufgaben auf sehr hohem Niveau gewachsen. Es wäre wunderbar, wenn dieses ungewöhnliche Stück gut und phantasievoll gebauten Bildungstheaters seinen Weg ins erweiterte Repertoire der Opernhäuser schaffen könnte.