Foto: Uraufführung „Nathan“ von Nuran David Calis frei nach Motiven von Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“ © Maximilian Borchardt
Text:Martina Jacobi, am 2. Dezember 2023
Nuran David Calis, bekannt für dokumentarische Theaterformate mit politischen Themen, inszeniert „Nathan“ am Nationaltheater Mannheim, frei nach Motiven von Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“ und macht aus dem Drama einen heutigen, deutschen Großstadtkrimi.
Die Bühne ist wie ein Schaukasten aufgebaut (Bühne: Irina Schicketanz): Unten sind verschieden Zimmer, vor denen eine Kamera, deren Bild auf einen großen Monitor übertragen wird, von den Darsteller:innen hin- und hergefahren jeweils den Fokus auf einzelne Szenen setzt. Oben gibt es drei große Bildschirme (Video: Karnik Gregorian) zu sehen, darauf die Übertragung der vorderen und weiteren im hinteren Bühnenbereich aufgestellter Kameras sowie eingespielte comichaft illustrierte Szenen, die zusätzlich zum Bühnenbild die einzelnen Schauplätze verdeutlichen.
Ein Zoom aufs Detail, darum scheint es Calis zu gehen. Um persönliche Geschichten und deren vielschichtigen Verstrickungen. Wer ist mir nah, wer ist mir fremd und warum? Nathan Grossmann (Boris Koneczny) ist Vorsitzender der jüdischen Gemeinde. Auf seine Stiefschwester Daja (Maria Munkert) und seine Adoptivtochter Recha (Sarah Zastrau) wird ein Anschlag verübt. Am Tatort findet die Polizei antisemitische Schmierereien in arabischer Schrift, weshalb sie schnell den sunnitischen Unternehmer Salatin Denktaş (Ismail Deniz) dahinter vermutet. Doch Daja sowie auch Jonas (Omar Shaker) vom BKA zweifeln.
Schicksalsverstrickungen
Die Inszenierung hat ein hohes Tempo, alles ist in Bewegung. Wir sind gleichzeitig im Hier und Jetzt des Ermittlungsstandes und in den Erzählungen der einzelnen Figuren. Gerade noch im Verhörraum, dann bei den persönlichen Gedanken der Charaktere, die sich selbst als „Ich“ und dann als jeweilige Figur in der dritten Person beschreiben. Sie erzählen ihre eigene, oder auch einfach irgendeine von Rassismus und Antisemitismus geprägte Geschichte — so könnte es sich abspielen und so spielt es sich ab.
Parallel zum Geschehen in der deutschen Großstadt erfährt das Publikum die Geschichte eines jungen Mädchens aus einem syrischen Dorf, wie seine Mutter verschleppt wird, wie es sich die Brüste abbindet und sich als IS-Kämpfer verkleidet, dann seine Flucht bis nach Berlin zu Onkel Aris (Sandro Šutalo). Shirin Ali spielt dieses Mädchen mit toller Präsenz und sorgt mindestens für Gänsehaut.
Viele Wahrheiten
Eingängige Rap-Texte des Heidelberger Hip-Hop Künstlers Toni-L bringen Dynamik in die Uraufführung, wobei er vom Bildschirm und die Darsteller:innen abwechselnd auf der Bühne live mitrappen. Derweil spinnt Calis ein engmaschiges Schicksalsnetz — alle sind miteinander verbunden: Nathan Grossmann und Margot Bendnarz (Ragna Pitoll), die Leiterin des BKA, haben beide überlebende Kinder eines Brandanschlags auf ein Flüchtlingsheim adoptiert. Und Hermann Müller (Eddie Irle), auch bei der Polizei und ehemalig beim MAD (Militärischer Abschirmdienst), wurde dazumal bei einem Einsatz von Aris und seiner Frau gerettet, die nun in Deutschland in Angst vor einer Abschiebung leben.
„Wer kennt die Wahrheit. Gewiss hat jeder seine eigene. Nur der Antisemit und der Rassist haben keine eigene“, rappt Toni-L. Und dann: Als toller Geschichtenerzähler schließt Koneczny als Nathan den Abend mit Lessings Ringparabel darüber, dass keine Religion über der anderen steht ab. Erfahrungen und Erzählungen der Eltern und Ahnen prägen persönliche (religiöse) Gefühle. So schlägt Calis den Bogen ins Jetzt, zum „Ich“, zum „Du“ und „Wir“, zu Arbeitskolleg:innen und Nachbarn, vielleicht den Fremden in der Straßenbahn. Aus „Der Feind sitzt uns nicht gegenüber, sondern vielleicht neben uns“ macht Calis andere Fragen: Wer sitzt eigentlich neben uns? Und welche Geschichte glaubst du?