Foto: Liebe im Hotel. Vielleicht-Android Lea (Hana Lee) mit zweifelndem Mann (Martin Shalita). © Matthias Baus, Theater Koblenz
Text:Andreas Falentin, am 12. März 2017
Die Librettistin Hannah Dübgen hat eine Viererkonstellation erdacht, zwei Männer, zwei Frauen, angeordnet in gleichschenkligen erotischen Dreiecken mit einem unerhörten Mittelpunkt. Lea ist mutmaßlich kein Mensch, sondern künstliche Intelligenz, ein Liebes-Android, ein individueller Liebeswunsch- und Sehnsuchtserfüller. Mutmaßlich. Alex verliebt sich mit dem ersten Blick in sie. Und Lea ist einfach perfekt, liest ihm jeden Wunsch von den Augen ab, passt auch sexuell perfekt zu ihm. Zu perfekt? „Es ist ein Zweifel gesät – und das ist ja immer das Verhängnis!“, sagt der Dirigent Karsten Huschke in der Publikumseinführung und beschreibt damit genau die Triebfeder der Handlung. Alex konfrontiert seinen Freund Michael mit diesem Zweifel. Wieso benutzt Lea sooft dieselben Wörter? Warum kann sie Lautstärken dezibelgenau schätzen? Weshalb gibt es keine Beziehungskonflikte, nie? Und Michael behauptet, er habe Lea konstruiert. Durch seinen langen Blick habe Alex Lea ‚aktiviert‘ und auf sich geeicht.
Das weitere Geschehen lässt aber Zweifel zu. Lea verhält sich doch sehr ‚menschlich‘, sensibel, rücksichtsvoll, aber auch entschlossen, etwa in der Beziehung mit der sie begehrenden Christina, Alex‘ früherer und, vermutlich, Michaels jetziger Frau. Und Michael selber gibt durch sein Verhalten die meisten Rätsel auf. Er begehrt Lea bis zur Vergewaltigung. Als sie durch einen quasi inszenierten Unfall umkommt, bittet Alex Michael um Ersatz und wird vertröstet. Der 43-jährige Sören Nils Eichberg hat für seine dritte Oper eine sehr eigenwillige Musik geschrieben. Techno-Sounds und Live-Samples treffen auf ein abgeschliffenes, sich mal an Minimal Music, mal an Clusterhaftes annäherndes postimpressionistisch-tonales Idiom. Eine Klangwelt, die dem Spiel immer wieder Impulse verleiht, aber oft hinter es zurücktritt und sich in der kundigen Führung der Singstimmen an den Größen des anglo-amerikanischen Theaters, an Barber, Britten und Bernstein orientiert, ohne epigonal zu sein.
Die Uraufführung war unter für den Komponisten nicht glücklichen Umständen an Londons Covent Garden. Für die deutsche Erstaufführung hat das Theater Koblenz ein außergewöhnliches Umfeld geschaffen. Waltraud Lehner inszeniert in dem Bühnenbild von Ulrich Frommhold, in dem sie am Vorabend Philip Glass‘ „Fall of the House of Usher“ zur Premiere gebracht hat. Und sie schärft Eichbergs Stück durch eine grandiose Anfangsidee. Die repräsentativen Burggemächer sind jetzt Teil eines Eventhotels, einer Retro-Absteige für Hipster, eine kommerzielle ‚Edgar Allan Poe Experience‘. Und die vier Protagonisten, die die Bühne mit Koffern betreten, haben offenbar ein Wochenende gebucht in ‚Madeline’s Dream Hotel‘, wo Damen im Madeline-Kostüm mit roten Perücken die Getränke reichen. Mit vielen Accessoires verdichtet Lehner ihren alten, neuen Ort, vom Feuerlöscher über die Notausgangsgraphik bis zum „Bitte nicht stören“ – Pappschild. Eine Zimmerpalme wechselt den Platz und dekoriert mehrere Räume. Ushers Tafel, zu Beginn noch anwesend mit dekorativ angerichtetem Fasan, macht einem schnöden Billardtisch Platz. Und Georg Lendorffs Videos drehen nicht mehr an der Atmosphäre-Schraube, sondern bieten ironisch Dekoration feil, verwandeln das spartanische Schlafzimmer mittels Überblendung mit Bourbonen-Lilien tückisch in eine Hotel-Suite. Dazu kommt das psychologisch-realistische, oft ein wenig verbraucht wirkende, aber vollkommen schnörkellose Spiel der Sänger. Und die geschliffene Wiedergabe der Partitur durch Karsten Huschke und das Staatsorchester. Es gibt keine Angriffsflächen, aber jede Menge Abgründe. Schockiert finden wir Menschen von heute auf der Bühne, Elite – Menschen, die offensichtlich keine wirtschaftlichen Nöte kennen und hauptsächlich ein Ziel verfolgen: die Befriedigung ihrer individuellen Bedürfnisse.
So tun sich jede Mengen Bezüge zu „Usher“ auf, die weit darüber hinausgehen, das man im oft vorwitzig daherkommenden Klavier glaubt, wiederkehrende Glass’sche Pattern verordnen zu können. Sind Poes und Glass‘ Protagonisten dem ‚normalen Leben‘ fern und wünschen sich verzweifelt, sozusagen als Therapie, dahin, wecken Eichbergs Spieler die Vermutung, dass es dieses ‚normale Leben‘ gar nicht mehr gibt, dass es im Säurebad der totalen Individualisierung zur standardisierten Beziehungslosigkeit geronnen sein könnte. Dass es nur noch „Glare“ (Täuschung) ist. Deshalb werfen sich diese Figuren aufeinander wie in einem Modellversuch, einem Marivaux-Experiment, einer Idylle-Simulation, eben einem Event-Wochenende, einem Innen im Draußen. Poes Figuren wollen sich finden, Eichbergs wollen sich verlieren. Wie prägnant wird das gezeigt!
Nicht zuletzt, weil auch hier ein Ensemble vom feinsten agiert, angeführt von Hana Lees grandioser Lea mit leichtem Stimmsitz, klarer Artikulation und faszinierend melancholisch verwehenden Stimmfarben. Haruna Yamazaki ist stimmlich der Gegenpol, führt ihren Mezzo sehr direkt, manchmal fast robust und wahrt doch das nötige Maß an Eleganz, das auch Christoph Plessers eigen ist. Sein Bariton wirkt weniger substanzreich, erfasst aber die unattraktive Figur des Michael mit plastischer Phrasierung sehr genau. Bleibt Martin Shalita, ein Tenor mit der attraktiven Klangoberfläche amerikanischer Musical-Baritone und ein sehr männlicher, sehr raumgreifender, vor allem sehr glaubwürdiger Darsteller. Am 26. März werden beide Stücke nacheinander gezeigt. Der Weg nach Koblenz lohnt sich.