Foto: Digitale Premiere am DT: "Der Zauberberg" mit einer Videoanimation von Tilo Baumgärtel © Arno Declair
Text:Barbara Behrendt, am 21. November 2020
Eine Prozession weißer Gestalten kämpft sich mit schweren Schritten über die weiße Bühne als ginge sie durch meterhohe Schneewehen. Ihre Gesichter weiß, die Haare weiß, stecken sie in weißen Fatsuits, die ihnen dicke Brüste, massige Bäuche anheften. Oder die faltige Haut in Stofflappen über den Stoffrippen herabhängen lassen. Als könnten diese Menschen ihre Körper aus fahlem oder zu üppigem Fleisch jederzeit abstreifen. Und dann? Was bliebe dann von ihnen übrig?
Ihre Stimmen sind verzerrt, wenn sie die großen, existenzphilosophischen Fragen stellen, die in Thomas Manns „Zauberberg“ oft eher zwischen den Zeilen verhandelt werden: Kann man die Zeit erzählen? Was ist der Körper? Was ist das Fleisch? Was ist das Leben?
Auf dem Bühnenboden die Projektion eines Labyrinths, schön wie ein Mandala. Darauf steht ein riesiges Instrument, ein Galgen womöglich, ein Folterwerkzeug, vielleicht aber auch ein Teleskop zur Sternenbetrachtung.
Der Zauberberg wird gerade an vielen Theatern als Roman der Stunde für die Bühne adaptiert: Hans Castorp besucht seinen Vetter im Schweizer Sanatorium, eines für Lungenerkrankungen. Auf drei Wochen nur – doch aus ihnen werden sieben Jahre in Isolation, während derer sich in der Welt der Krieg zusammenbraut. Eine Geschichte über Krankheit, Leben, Sterben und natürlich: Zeit.
Sebastian Hartmann hat diesen Klassiker schon vor zehn Jahren in Leipzig inszeniert, damals sogar recht nah an der Vorlage. Am DT verabschiedet er sich nun von jeder Erzählebene und zeigt allein seine radikal subjektiven, bizarren Assoziationswelten. Er arbeitet sich fast ausschließlich an der Episode ab, in der sich Castorp auf einer Schneewanderung verirrt und der Welt beinahe verloren geht – im weißen Wahn fantasiert er sich da blutige Albträume zusammen. In der Figur von Markwart Müller-Elmau blitzt Castorp hier und da durch, wenn er ins Leere starrt und Sätze sagt wie: „Ich bin der Welt abhanden gekommen. Gestorben bin ich der Welt.“
Ein höchst abstrakter Abend ist das, finster inszenierte Philosophie vom Nichts. Nihilismus pur. Einmal wird ein Körper mit einem Akku-Schrauber immer wieder zum Leben erweckt. Doch alles, was er wie wahnsinnig schreien kann, ist: „Ich muss sterben!!“ Von wegen: freier Wille.
Hin und wieder dann ein Bruch, die Dekonstruktion. Die Spieler verschwinden für eine Zigarette hinter der Bühne und reden von der „Unbrauchbarkeit der großen Begriffe“. Später wechseln sie in weiße Kleider aus Tüll und parodieren die selbstsichere Gesellschaft, die für alles einen Namen und eine Antwort hat.
In den besten Augenblicken schafft Hartmann mit seinem Ensemble und breit aufgestellten technischen Team albgeträumte Existenzbilder und Momente höllischer Verzweiflung. Etwa die Projektion der pseudo-nackten Menschen auf der Bühnenwand, die nun wirken, als fielen sie aus schwarzen Wolken in einen finsteren Abgrund. Die gruseligen Todesmasken, die den Spielern immer wieder aufs Gesicht projiziert werden. Der Moment, wenn Cordelia Wege versucht, einen unsichtbaren Vogel zu fangen. Das einzige echte Leben. Und immer wieder: der Blick in das stumme, elendige, hoffnungslose Gesicht von Markwart Müller-Elmau, der sich in Erinnerungen an den Krieg verliert, während schwarze Asche auf ihn rieselt.
Doch die längste Zeit des Abends wirken die rätselhaften Bilder, die die vier Kameras höchst professionell sowohl kreieren als auch einfangen, überinstrumentiert, künstlich und bedeutungsschwanger. Man mag das perfekte Handwerk des Regisseurs bewundern, seine Kunstfertigkeit, Kameras und Bühne so geschickt zu verzahnen, zudem die fantastischen Kostüme von Adriana Braga Peretzki – berühren kann das aber nur äußerst selten. Nach der Dauer von zwei Stunden bleibt vor allem das Gefühl einer überambitionierten Kunstanstrengung zurück.