Foto: Szene aus "Liberace - Glitzer, Schampus und Chopin" © Ronny Ristok
Text:Roland H. Dippel, am 12. Mai 2018
Silvana Schröder choreografiert in Gera „Liberace – Glitzer, Schampus und Chopin“
Opulent überzogenes und überzüchtetes Tanzleben bis zum Augenkrebs! „Liberace“ mit dem Thüringer Staatsballett punktet im Vergleich zum Film beachtlich: Denn in Steven Sonderberghs „Zu viel des Guten ist wunderbar“ (2013) gibt es zwangsläufig Inseln realistischer Personenführung. Anders im Theater Gera bei der Legende vom Showpianisten Wladziu Valentino Liberace (1919-1987).
Vielleicht gehen Liberace, seine vielen Liebhaber und Pudeldamen etwas an der mitteldeutschen Lebenswirklichkeit vorbei. Schon Ende der Achtziger Jahre war das versteckt schwule Leben des an HIV verstorbenen Glamourstars der sich damals formierenden politischen Community ein Dorn im Auge. Aber was Silvana Schröder und ihr fetzendes Ensemble daraus machen, atmet eine Nonchalance, koketten Spielwitz und Riesenfreude am erotischen Hedonismus, der über den Hang zum sämigen Melodram hinausschießt. Und wie!
Schon die sinnfällige Ausstattungsorgie von Verena Hemmerlein erdrückt nicht, sondern befreit und knallt. So locker, verspielt und dynamisch verzahnt hat man die Kompanie schon länger nicht mehr erlebt. Wirklich jeder einzelne hat seinen persönlichen Wirkungsmoment. Die Kostüme funkeln frech und frivol. Immer mehr steigt mit Liberaces Kampf gegen den Verfall im Altern die menschliche Verlorenheit. Aber noch trauriger ist es, weil Silvana Schröder sehr plastisch modelliert, wie Liberace alle Lover und Pudel seiner Privatdiktatur unterwirft und im goldenen Käfig verkümmern lässt.
Im (echten!) Pool auf dem Orchestergraben plantschen die Boys und zeigen unter ihren rotsilbernen Fliegen die attraktiven Sixpacks. Liberace und seine rasch wechselnden Gespielen vergnügen sich im Doppelbett mit gekröntem Schwanenrelief. Da grüßen der neue Leipziger „Schwanensee“ von Silvana Schröders Bruder Mario und ein bisschen John Neumeiers „Schwanensee-Illusionen“. Liberaces Showhermelin erinnert an Verstiegenheiten eines gewissen Neuschwansteiner Märchenkönigs, der das gleiche Faible für männliches Personal hatte. In der gründlichen Dialogarbeit glaubt man die mitformende Hand von Dramaturg Daniel Siekhaus zu erkennen. Neben der damenhaften Mutter Liberaces (Alina Dogodina) und zwei knisternd prickelnden Hausmädchen (Stefania Mancini, Sanaho Kitamoto) toben die Ballettdamen als Pudelkolonne zum Schnuppern und Kuscheln. Nur manchmal auf allen Vieren, aber immer mit blütenweißen Schlappohren. Pudel sind also doch die besseren Ballett-Schwäne. Silvana Schröder zieht alle klassischen Gruppierungskünste in den Dienst ihrer Showszenen. Sie konfrontiert die Pudelkolonne mit der Loverkolonne aus den Männern, die auf dem Doppelbett oder als Rausschmeißer gerade nicht so stark gefordert sind.
Die Gruppen des Thüringer Staatsballetts erfüllen diese stellenweise delikaten Aufgaben mit souveräner, alles andere als selbstverständlicher und zunehmend mit von Spiellust berstender Lockerheit. Da zeigt Silvana Schröder intelligentes Feingefühl, wenn sie immer nur genau das verlangt, was vor allem die Herren an Körperpräsenz und Sexappeal geben können, ohne in selbstquälerisches Forcieren zu verfallen. Der ganze Abend ist deshalb auf der Höhe beschwingter Coolness.
Und überhaupt ist diese Choreografie ein einziger Hingucker. Immer bleibt alles im Fluss zwischen Showdance, Pantomime und hier dem nur den Männern vorbehaltenen emotionalen Tanz, der nach kurzen Aufschwüngen so schnell abebbt wie begonnen. Denn zu fast jedem leeren Schampus-Glas rückt schon der nächste Kerl an. Wäre nicht die breiter ausgespielte und so traurig endende Story mit seinem wichtigsten Beziehungspartner Scott Thorson (Filip Kvacák), hätte man in Gera als Weltneuheit die erste schwule Champagneroperette feiern dürfen.
Es gibt eine dreifältige Spaltung des Stars im Zentrum: Für den Dialogpart und den Mann am Klavier stehen allererste Fachkräfte bereit. Olav Kröger lässt mit Swing die Kitschkaskaden perlen und gleitet nobel aus den perfekten Zuspielungen, die ganz herrlich die Sounddesigns der Siebziger Jahre spiegeln. Dieser Pianist bereitet den goldenen Boden für die Szenen, in denen Jon Beitia Fernandez das junge Showgenie als Charakterschwein bloßstellt. Beitia Fernandez überzieht Liberaces verführerische Seite mit einer eiskalten Oberfläche, wenn er seinen verschlissenen Affären die Klunker von den Fingern reißt. Einen ungekrönten Veteranen des Geraer Balletts hat man für den alten Liberace. Es ist berührend, wie Peter Werner-Ranke die schwindende Attraktivität des Stars zeigt. Er spielt nicht auf alt, sondern seziert die quälende Prozedur des Alterns. Es braucht am Ende eigentlich gar keine Versöhnungsszene vor dem Aids-Tod, weil Liberace bereits kapituliert hat. Spätestens da erweist sich der schöne Schein als hohler Schein. So wird die auf den goldenen Zwischenvorhang hinter dem rosaroten Himmelbett applizierte „Erschaffung des Adam“ Michelangelos aus der Sixtinischen Kapelle doch noch zum dramaturgischen Symbol des Werdens und der Sterblichkeit alles Männlichen.
Die Damen erhalten zwar reichlich Bewegungsfutter, sind aber real genommen erstklassige Edelstatisterie. Silvana Schröder zieht also lustvoll bis zum Schluss durch, was nach Frauenstücken wie „Piaf“ und „Anita Berber“ vollkommen legitim ist. Nur am Anfang wird einem etwas flau von den Farbexzessen in Pink, Limone, Gold, all den Zofenschürzen und Lycra-Klamotten. In der verschwenderischen Materialschlacht erkennt man später umso deutlicher die strukturierende Hülle, welche die unerträgliche Leichtigkeit des Spiels erst ermöglicht. Der starke, nicht allzu enthusiastische Applaus beweist, dass dieses Glitzern im freien Fall verstanden wird.