Das passt zur Musik und die Choreografie schmiegt sich dieser sensibel wie sinnfällig an. Erst könnte man denken, dass einige Bewegungsfolgen zu sportiv geraten. Einige Jogging-Schritte fallen aus dem heiteren Ernst wie eine fast zur Karikatur geratene Szene: Da liegen an der Rampe vorne vier Ballett-Männer aufgebahrt wie zur Pietà nach der Kreuzabnahme. Aber von den Frauen gibt es dazu keine marianischen Leid- und Mitleid-Posen. Im Stechschritt bewegen sie sich vorwärts. Doch die Szene endet, bevor das Bataillon mit Gewalt eskaliert.
Heilig und nicht-heilig
Das verhindert auch die Musik. Die „Petite messe solennelle“ enthält ziemlich komplizierte Melodie-Konstrukte mit Reminiszenzen an Rossinis revolutionäre Schaffensperioden in Neapel und Paris: Auch hier erscheinen seine Melodien koloraturenreduziert. Trotzdem gibt es immer wieder faszinierende Vokalornamente. Giannetti greift diesen langen, ruhigen Fluss der Musik auf. Erst schickt er den Tenor Costa Latsos während seines betörend gesungenen Solos „Domine Deus“ in einen gar nicht so einfachen Pas de deux mit einem Tänzer und später die Sopranistin Ania Vegry in das Duo mit einer Tänzerin, in dem sich die sportive Ebene unter strahlenden Spitzentönen und Selbstironie erledigt. Nur an wenigen Stellen bildet der unter Kennerknechts Einstudierung prächtig agierende Opernchor Spalier für exponierte Ballett-Sequenzen.
Giannetti überwindet auch Rossinis sakrilegischen Witz. Der Komponist fragte sich selbstironisch, ob seine Messe „heilige“ oder nicht doch eher „vermaledeite“ Musik sei, forderte als Besetzung „12 Sänger von drei Geschlechtern – Männer, Frauen und Kastraten“. Was der depressive Rossini über die von ihm aktiv mitgestaltete letzte Belcanto-Generation mit Sarkasmus äußerte, wird von Giannetti gemildert. Im überkonfessionellen „Ritus“ hat die genderfluide Zukunft schon begonnen. Staunend und neugierig betasten sich die Individuen, bilden in gemessenem Tempo Ornamente aus Armen und Blicken. Die Besetzung der Solopartien passt vollkommen: Da begegnet Rita Kapfhammers feinherber Mezzo dem hell timbrierten Bassbariton von Modestas Sedlevičius. Durch den Raum schreitet dazu eine stille ‚Engelsgestalt‘ (Kerstin Dathe) mit Leidensmiene oder Jenseitshoffnung, je nachdem.
Insgesamt, das merkt man auch am nachhaltig intensiven Premieren-Applaus, gelingt in „Ritus“ ein Hauch von edler Nachdenklichkeit – ganz ohne säkularisierte Weihrauchstimmung. Das liegt sicher auch an Rossinis schlichter wie fordernder Musik, bei der sich vokaler und tänzerischer Virtuositätszinnober verbietet. Stefano Giannetti gelingt es, die Stimmbesitzer seines Ensembles auch pantomimisch-tänzerisch bestens zu fordern und die Vorzüge seiner Kompanie ins beste Licht zu stellen. Einen solchen Konzeptionsbogen ganz ohne spirituelle Krokodilstränen schafft man nicht ohne weiteres. „Ritus“ ist auch deshalb ein starker Abend, weil er alle Fallstricke zwischen Krippenspiel und Kunstgewerbe ehrlich umgeht.