Foto: Eva Löbau (l.), Zeynep Bosbay und das hölzerne Publikum in "Kill the Audience" © Judith Buss
Text:Anne Fritsch, am 13. Dezember 2018
Spannender Umgang mit allgemeinen Theaterfragen und der Geschichte des eigenen Hauses – „Kill the Audience“ an den Münchner Kammerspielen.
„Ceci n’est pas un public“ („Das ist kein Publikum“), steht relativ am Anfang dieses Abends auf einem Schild. Darunter sitzen Schießbudenfiguren aus Holz auf einer zweiten Zuschauertribüne vis-a-vis vom Publikum. Eine Reminiszenz an René Magritte, der auf einem seiner bekanntesten Bilder eine Pfeife malte und darunter schrieb: „Ceci n’est pas une pipe.“ („Das ist keine Pfeife.“) Nein, es ist das Bild einer Pfeife, wie alles im Theater ebenfalls das Abbild einer realen Situation ist. Und schon ist man mittendrin im Thema des Projekts „Killing the audience“ von Rabih Mroué an den Münchner Kammerspielen.
Hier im Werkraum, der inzwischen Kammer 3 heißt, wurde 1968 Peter Weiss’ „Viet Nam Diskurs“ uraufgeführt. Die Inszenierung von Peter Stein und Wolfgang Schwiedrzik endete mit dem Aufruf ans Publikum, selbst aktiv zu werden und Geld für Waffen für den Vietcong zu spenden. Das Ganze wurde zum Theaterskandal: Darf das Publikum belehrt werden? Darf das Theater zu politischer Agitation aufrufen? Intendant August Everding jedenfalls untersagte das Geldsammeln, die Regisseure beharrten darauf, die Inszenierung wurde nach nur drei Vorstellungen abgesetzt. Die Waffenlieferung kam trotzdem. Die Fiktion des Theaters, das Bild einer Waffe wurde real. Darunter eine MG42, eine Mauser, die seitdem zum Fundus der Kammerspiele gehört. In über 50 Stücken hat sie mitgespielt, u.a. in Dieter Dorns Inszenierung von Botho Strauß’ „Groß und Klein“. Ceci est une Mauser. Gekauft vom Geld des Publikums. (Ist das so? Egal, Eva Löbau erzählt diese und andere amüsante Theater-Waffengeschichten in ihrem Prolog so charmant, dass man sie gerne glauben will.)
„Kill the Audience“ fragt nun also erneut nach den Grenzen zwischen Theater und Realität, zwischen Bühne und Publikum. Es ist, wenn man so will, eine kleine Analyse der Relevanz politisch ambitionierten Theaters – und vor allem seines Publikums. Denn: Ohne Publikum kein Theater. Auf fast alles kann man verzichten, nicht auf das Publikum. Also: Was kann, will und darf man ihm zumuten? Bettina Katja Lange hat gemeinsam mit Rabih Mroué einen Raum entworfen, der das Publikum quasi auf sich selbst zurückwirft: Zwei Tribünen stehen sich gegenüber, wobei – kleines feines Detail – die echten Zuschauer dort sitzen, wo für gewöhnlich die Bühne ist, während auf der echten Zuschauertribüne die Holzkameraden sitzen.
Eva Löbau und Zeynep Bosbay führen durch den Abend, unterstützt von der Musik Marja Burchards und Maasl Maiers. Immer auf der Spur von Realität und deren Abbild massakrieren Löbau und Bosbay das Holzpublikum mit den Original-Schlagstöcken aus dem „Viet Nam Diskurs“. Aber natürlich: „Das ist kein Massaker. Und Theater ist nicht das Leben.“ Und wieder die Frage: Was kann Theater überhaupt darstellen? Was will das Publikum sehen? Was nicht? Die beiden spielen nun also ein Best of „Viet Nam Diskurs“. Über die zweite Tribüne breiten sie eine Plane, darauf wird der Film eines Publikums projiziert, das sich das Stück ansieht. An den unpassendsten Stellen lacht es, schunkelt oder weint kollektiv.
Geht das auch besser? Später werden hier echte Menschen sitzen, die zwar ebenfalls kein Publikum (sondern Statisten) sind, sich aber zumindest wie eines verhalten. Sie verziehen keine Miene, sind an Passivität kaum zu überbieten. Sie starren ungerührt auf die Bühne, wo das echte Publikum sitzt und nun unverhofft selbst zum Akteur, zum Objekt nicht einer Publikumsbeschimpfung, sondern einer Publikumsbetrachtung wird. Eine halbe Stunde lang sitzt man sich gegenüber, betrachtet sich beim Betrachten, ist sich selbst überlassen. Nach einer Weile kommen zaghafte Zwiegespräche auf, ein einsames Klatschen, zwei haben einen Lachkrampf. Keiner weiß, wie – und ob – die Situation noch aufgelöst wird, die zunehmend unangenehm wird, weil man sich der eigenen Passivität bewusst wird. Keiner fühlt sich verantwortlich, alle schauen zu – das ist vielleicht die Schnittstelle zum realen Leben.
1968 wurde das Publikum aufgefordert, Geld für Waffen zu spenden. Heute wird es lediglich betrachtet – und vielleicht zum Nachdenken über sich selbst und seine Rolle in Theater – und Gesellschaft – angeregt. Vielleicht auch nicht. Am Ende jedenfalls bekommt es Standing Ovations vom falschen Publikum. Weil es ein überzeugendes Publikum war. Wenig Aufmucken, stilles Erdulden, kaum Fluchtbewegungen.