Foto: Pavol Breslik (Gawrila (Ganja) Ardalionowitsch Iwolgin) und Bogdan Volkov (Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin) versuchen Ausrine Stundyte (Nastassja Filippowna Baraschkowa) zu verstehen. © SF/Bernd Uhlig
Text:Regine Müller, am 3. August 2024
Mieczysław Weinbergs „Der Idiot“ ist nach einer posthumen Uraufführung 2013 nur vier weitere Male auf Opernbühnen inszeniert worden. Bei den Salzburger Festspielen entpuppt sich das Werk nun unter der Regie von Krzysztof Warlikowski zum Überraschungserfolg.
Krzysztof Warlikowski ist in der Ära Hinterhäuser Stammgast bei den Salzburger Festspielen. Seine „Elektra“ im Pandemie-Jahr 2020 war ein großer Erfolg, sein „Macbeth“ im vergangenen Jahr wirkte dagegen etwas manieriert im gehäuften Einsatz bereits bekannter Stilmittel. Bei „Der Idiot“ kommt Warlikowski nun ganz zu sich, seiner enormen Souveränität in der Personenführung und der virtuosen Beherrschung der 40 Meter breiten Riesenbühne.
Małgorzata Szczęśniak hat die archaischen Steinwände der Felsenreitschule mit nussbraunen Holzpaneelen verkleidet, die auch als Video-Projektionsflächen dienen. Ferner gibt es eine Wandtafel, einen mit einem transparenten Schleiervorhang verkleideten, fahrbaren Raum und eine rote Sitzgruppe, die zu Beginn ein Zugabteil vorstellt.
Darin sitzt der Titelheld, Fürst Myschkin, auf dem Weg zurück von einem Sanatoriumsaufenthalt in der Schweiz nach St. Petersburg. In der Schweiz hatte er jahrelang seine schwache Gesundheit und seine Epilepsie behandeln lassen. Im Zug lernt er kurz vor dem Ziel Rogoschin und Lebedjew kennen. Letzterer fungiert in der Folge als Kommentator und Erzähler des Fortgangs der Geschichte, während Rogoschin ihm von seiner Passion für die schlecht beleumundete Nastassja Filippowna erzählt.
Fremd in der Heimat
In Russland angekommen, merkt Myschkin, der als naiver Mensch geschildert wird, dass ihm Russland und sein raues Klima fremd geworden sind. Er friert beständig. Dennoch mischt er sich in die von Neid, Geldgier und Nihilismus zerfressene Petersburger Gesellschaft. Er entbrennt für Rogoschins Geliebte, später für Aglaja, eine der drei unverheirateten Töchter der entfernt verwandten Familie Jepantschin. Dann macht er eine erhebliche Erbschaft und verstrickt sich immer tiefer in den Konflikt zwischen dem Drang, Nastassja zu retten oder sich für Aglaia zu entscheiden. Am Ende ersticht Rogoschin Nastassja und bittet seinen Freund Myschkin zu sich. Die Oper endet damit, dass beide Männer neben der Leiche auf dem Bett liegen und Myschkin vor Kälte und Grauen zittert.
Warlikowski deutet den Titelhelden als Menschen, der aus der Sphäre der Wissenschaft kommt und zu Beginn Formeln von Einstein und Newton an die Tafel schreibt. Tatsächlich geht es ja um die fatale Schwerkraft dunkler Emotionen, um ihre hohe Fallhöhe, zugleich um die Relativität von Zeit, um die endlosen Loops der Leidenschaft und Verzweiflung. Myschkin ist körperlich und emotional von zarter Statur, während um ihn herum robuste, abgebrühte Typen seine Naivität bestaunen und belächeln.
Warlikowski findet für jede Figur eine eigene Körpersprache, einen eigenen, subtil ausbalancierten Ausdruck, sodass packende, sehr reale Konstellationen entstehen, an deren psychologischen Details und Tiefenschärfe man sich kaum sattsehen kann. Es lungern auch Statisten und Nebenfiguren auf der Bühne herum, aber alles macht Sinn und fügt sich zu bannenden Tableaus. Fast vier Stunden herrscht atemlose Spannung auf der Bühne.
Musikalische Sternstunden
Nicht zuletzt auch deshalb, weil im Graben die litauische Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla die Zügel fest in der Hand hält und Weinbergs hoch komplexe Partitur sensibel auslotet und ihren extremen Härten keineswegs ausweicht. Weinbergs Tonsprache ist ungemein dicht gewirkt und steht Schostakowitsch nahe. Sie kennt Ironie, integriert elegant Jazz-Elemente und klassizistische Passagen. Alles wirkt ungeheuer dynamisch, farbig und packend. Die Wiener Philharmoniker sitzen hörbar auf der Stuhlkante und bieten ihren ganzen Schönklang auf, aber auch ihre zuschlagende Pranke.
Das herausragend und stilprägend besetzte Ensemble wird überstrahlt vom überragenden Myschkin des Bogdan Volkov. Der an Mozart geschulte Tenor ist vielleicht eine Spur zu schlank für Weinbergs riesigen Orchesterapparat. Aber gerade diese lyrische Zartheit, die Modulationsfähigkeit und seine darstellerische Intensität ergeben ein zutiefst berührendes Rollenporträt. Gewohnt großartig Ausrine Stundyte als gefallene Nastassja, herausragend Vladislav Sulminsky als Rogoschin, Iurii Samoilov als Lebedjew, Xenia Puskarz Thomas als Aglaja und eigentlich alle weiteren kleineren Rollen. Großer, verdienter Jubel für eine Pioniertat.