Foto: Alberich (Peter Moltzen auf dem Stuhl), im Hintergrund die Rheintöchter © Birgit Hupfeld
Text:Jasmin Goll, am 4. Juni 2021
„there is no wagner here. no richie. keine neblige gruft. keine wüthende nähe. kein wissender schlaf und kein kühner gott.“ Damit stellt Thomas Köck in seiner Überschreibung von Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“, benannt mit „wagner – der ring des nibelungen (a piece like fresh chopped eschenwood)“, gleich klar: Hier gibt‘s keinen Stabreim, keinen Gesang, kein großes Orchester, keine Natur. Damit entkleidet er Wagners vierteiliges Mammutwerk keineswegs nur von Brimborium. Von Wagner ist bei dieser Uraufführung am Berliner Ensemble in der Tat nämlich nicht viel übrig.
Köck schlägt sich einen Pfad durch das Erzähldickicht des „Rings“: Er streicht einen Großteil des Figurenpersonals, verteilt die Figuren vom „Rheingold“ bis zur „Götterdämmerung“ neu und verändert damit so manchen Erzählbogen. Angesiedelt ist der ‚Köck-Ring‘ in einem konkreten Setting: Siegfried ist – misshandelt in der Kindheit – Bewohner einer geschlossenen Psychiatrie und soll mittels eines operativen Eingriffs seiner Erinnerungen beraubt werden. Der Göttervater Wotan ist Oberarzt der Klinik, Brünnhilde ist zunächst in einer Zwangsjacke gefangen, Siegmund und Sieglinde brechen mit ihrer inzestuösen Liebe eine Hausregel.
Ersan Mondtag (Regie und Bühne) inszeniert Köcks Text in einer Küche von überdimensionierter Größe. Stuhl, Tisch, Kühlschrank, Arbeitsplatte lassen die Darstellenden in kindliches Format schrumpfen. In diesem Spielplatz kann sich Siegfried (Paul Zichner) austoben, zugleich färbt die Beleuchtung (von Rainer Caspar) die Szenerie immer wieder in ein albtraumartiges Geschehen um, wenn etwa Wotan dem raffgierigen und obsessiven Alberich (grandios gespielt von Peter Moltzen) die ganze Hand mit dem Ring abtrennt. Die Figuren in bunten, exzentrischen Kostümen (Josa Marx) im 70er Jahre-Stil, mit jeweils überhoher Stirn fügen sich in das surreale Arrangement. Hagen (großartig besetzt mit Nico Holonics), zum zentralen Strippenzieher aufgewertet, stolziert wie ein Mitglied der Band Kiss solide auf Plateau-Highheels über die Bühne, parliert immer wieder in Englisch, was seine Coolness nur unterstreicht.
Die Dialoge dienen weniger dem Fortschreiten der Handlung, sondern der Verhandlung über den finsteren Seinszustand der Welt. Köck nutzt Wagners „Ring“ als Leinwand für einen dystopischen Weltentwurf – als Abrechnung mit dem Mythos selbst, mit Kapitalismus und Nationalismus, versetzt mit Einsprengseln aus der Tagespolitik. Der Mythos nicht als Relikt der Vergangenheit, sondern vielmehr als Produkt ohne Verfallsdatum, das bei jedem Aufwärmen zwar anders duften kann, aber immer wieder denselben fahlen Beigeschmack hinterlässt. Die darin präsentierte Ordnung nährt das Wachstumsdogma, Deutschtümelei, Verhöhnung von Juden, patriarchale Machtverhältnisse und White Supremacy – deshalb weg mit dem „dirty loop of history“. Reißt also alles nieder? Der Deckel eines Kochtopfs wird zum Tarnhelm, das Klackern von Mimes Absätzen wird comicartig eingespielt, der Mythos wird auf der Anklagebank zur effektheischenden Karikatur ausgehöhlt. Die Figuren treten dafür immer wieder aus sich heraus, ziehen kritische (und manchmal entlegene) Metaebenen ein und bieten – nicht zuletzt durch eine Cross-Gender-Besetzung bei Wotan (Corinna Kirchhoff), Erda (Wolfgang Michael) und Sieglinde (Jonas Grundner-Culemann) – neue Lesarten an. Die Rheintöchter wollen nicht als naiv-neckische Nixen abgestempelt werden: So überzeichnet Philine Schmölzer nasal-puppenhaft sprechend ihre Rolle. Brünnhilde (Stefanie Reinsperger) nimmt die Dinge in die Hand. Meist penetrant im Dauer-Fortissimo sprechend ruft sie inbrünstig zu (weiblichem) Aufbegehren und zum Niedergang des Mythos auf.
Max Andrzejewski hat aus den vier Vorspielen der Wagner-Stücke vier Ouvertüren für ein zwölf-köpfiges Orchester gebaut, die lediglich eine lose Verbindung zu Wagners Musik wie zum szenischen Geschehen eingehen. Zwar mit Streichern, Bläsern, Vibraphon, Gitarre, Keyboard und Drumset interessant instrumentiert, aber nur über Lautsprecher eingespielt, mischt sich die Musik nicht in die kritischen Verhandlungen auf der Bühne ein. Eigentlich böte Wagners komplexes Motivgewebe, das im „Ring“ als musikalisch-gestischer Erinnerungsspeicher das Geschehen kommentiert, auch hier ausreichend Angriffsfläche für das Verhandeln von Erinnerung. Andrzejewskis kurze Musiken doppeln stattdessen nur musikalisch die Wiederholbarkeit des Mythos. Sie leiten die einzelnen Wagner-Teile ein und untermalen hier und da Szenen mit zurückhaltendem Sound-Design, werden aber leider keineswegs zum Schauplatz für Auseinandersetzung.
Die vier Stunden ziehen sich in die Länge, auch wenn die Spielfreude des Ensembles und Zwischenjubel des Publikums sowie herrliche Situationskomik die lange Absenz von Live-Theater spürbar machen. Im Foyer liegen noch die Monatsspielpläne für Oktober und November 2020 aus. Zurück zum Tagesgeschäft und allzu schnelles Anknüpfen an Bisheriges liegt nach so einem Abend ja sowieso fern.