Kay Voges inszeniert Tennessee Williams' "Endstation Sehnsucht" am Schauspiel Frankfurt

Was für eine Knacksdame!

Tennessee Williams: Endstation Sehnsucht

Theater:Schauspiel Frankfurt, Premiere:06.12.2014Regie:Kay Voges

Wann hat man zuletzt so tief in eine zarte, schwer gedemütigte Seele geblickt? Tennessee Williams’ Meisterwerk „Endstation Sehnsucht“ ist im Schauspiel Frankfurt großes Theater und großes Kino zugleich. Kay Voges, der seit vier Jahren Schauspiel-Intendant am Theater Dortmund ist, bleibt seiner Vorliebe für die filmisch geprägte Theaterarbeit auch in dieser Gastinszenierung treu.

Seine Bühne, entworfen von Daniel Roskamp, gleicht einem Triptychon im Cinemascope-Format. In der Mitte ein quadratischer Guckkasten, in den ein bewegliches, wunderbar morbid-schmuddeliges New-Orleans-Ambiente mit schäbigen Wohnräumen, zerschlissenem Mobiliar und einem alten Pick-up nebst Autoreifen und verblassten Reklameschriften hineingehext wurde. Überall gibt es hier kleine Details zu entdecken, eine Augenweide! Rechts und links an diesen Guckkasten schließen sich zwei ebenso große Projektionsflächen für die Videoart von Daniel Hengst an. Auf sie wird das Bühnengeschehen mit überwältigenden Close-ups von den Gesichtern übertragen, immer aus unterschiedlichen Perspektiven und gespiegelt, sodass sich frappierende Symmetrieeffekte, Doppelungen und voyeuristische Blicke aufs Private, allzu Private ergeben – bis hinter die Klotür oder auf den deftig-drastischen Nahkampf, den sich Stella und Stanley auf ihrem Lotterbett liefern. Die beiden Kameramänner, die für die Liveübertragung der Bilder verantwortlich sind, huschen nur gelegentlich in dezenter Weise über die Bühne; man nimmt sie kaum wahr, aber dennoch sorgen sie für die gewünschten Momente der Illusionsbrechung.

Mit seinem vor einem Jahr veröffentlichten „Dortmunder Manifest“ forderte Kay Voges eine neue Symbiose zwischen filmischen und theatralischen Mitteln. In Frankfurt folgt er dem selbst gesteckten Ziel und belebt so das gute, alte psychologische Theater neu. Er zeigt, wie nah sich doch Tennessee Williams und Anton Tschechow sind: Das verlorene Südstaaten-Anwesen „Belle Rêve“ erinnert an den vom Bankrott bedrohten Kirschgarten des russischen Dramatikers. Auch „Belle Rêve“, dieser schöne Traum, ist pleitebedingt passé. Die triebgesteuerte Blanche trauert der mondänen Vergangenheit in der längst verjubelten Luxusimmobilie dennoch nach.

Tschechow wie Williams verstanden es perfekt, fragile Frauenfiguren zu zeichnen. Da die Kirschgarten-Erbin Ranewskaja oder die drei Schwestern, die der provinziellen Enge und inneren Leere entkommen wollen, dort die beiden amerikanischen Schwestern Stella und Blanche, die ebenfalls einmal bessere Tage erlebt haben. Auch sie zwei Glückssucherinnen, geschnitzt aus unterschiedlichem Holz. Stella scheint sich immerhin damit abgefunden zu haben, gemeinsam mit ihrer proletarischen Testosteronschleuder Stanley die Momente drastischer, verschwitzter Erotik genießen zu können. Seine Brutalität stört sie genauso wenig wie die Tatsache, dass sie zu jener Gesellschaftsschicht herabgesunken ist, die man heute „white trash“ nennt.

Blache dagegen blendet die Schäbigkeit ihres Daseins total aus. Die Erotomanin ist peinlich berührt, wenn andere erkennen, dass sie sich wahllos den Kerlen hingibt. Sogar einen 17-jährigen Schüler hat die Lehrerin verführt, weshalb sie hochkant aus der Schule geflogen ist: Ursache für ihre Flucht zu Stella, die kurz hinter der Endhaltestelle „Sehnsucht“ bei den „Elysischen Feldern“ von New Orleans wohnt, wo es alles andere als elysisch zugeht, denn hier haust das Prekariat Wand an Wand mit Nutten, Spielern, Säufern und anderen einsamen Herzen.

Die Rolle der Blanche ist eine der dankbarsten Partien, die das moderne Theater zu bieten hat. Schon Marianne Hoppe liebte diese „Knacksdame“, der sie einen ihrer größten Nachkriegserfolge zu verdanken hatte. In Elia Kazans legendärer Verfilmung von 1951 hat sich Vivien Leigh geradezu als Prototyp der Blanche ins kollektive Gedächtnis gespielt – mit Marlon Brando als Stanley-Macho an ihrer Seite.

In Frankfurt lässt Stephanie Eidt durch ihren mitreißenden, feinnervigen und hoch konzentrierten Einsatz die legendären Vorläuferinnen fast in Vergessenheit geraten. Als Großprojektion zeigt sie rechts und links die tiefen seelischen Verletzungen ihrer Blanche bis in die feinsten Gesichtszüge, während sie im Zentrum des Bühnen-Triptychons eine Passionsgeschichte von zeitloser Wucht erleidet – immer auf der Flucht vor sich selbst und vor einer Zukunft, die für Blanche alles andere als weiß sein wird. Ihre Albträume überblendet Kay Voges effektvoll mit projizierten Zerrbildern und beängstigenden Maskenspielen. Die Kino-Dämonen der Psychose kommen immer näher.

Zu zwei Sternstunden des Theaters wird der Frankfurter Abend auch durch die übrige Besetzung: Claude de Demo spielt Blanches Schwester Stella mit der richtigen Mischung aus naiver Koketterie und realitätsnahem Pragmatismus. Oliver Kraushaar trumpft mit den vier großen S der Stanley-Rolle auf: Spiel, Suff und Sex, ergänzt noch um eine bodenständige Süffisanz. Sieben Nebenrollen bietet der Besetzungszettel auf – auch sie mehr als routiniert gespielt. Bliebe noch Viktor Tremmel, der als Mitch jenen letzten Funken Hoffnung auf ein kleines Glück zu zweit in Blanche aufglimmen lässt, der dann doch jäh erlischt. Der Rest ist Kälte im subtropischen Lousiana und ein Dahinvegetieren in der Psychiatrie. Als kinogemäßer Abspann folgt das Wort „ende“, geschrieben in Kleinbuchstaben wie schon der Vorspann.