Foto: Marvin Rehbock, Christoph Rinke, Ilja Harjes und Dennis Laubenthal in "Afghanistan" am Theater Münster. © Ludwig Olah
Text:Jens Fischer, am 8. Oktober 2012
Treffen sich zwei Nordost-Londoner Ausgeburten der Working Class und reden über Fußball. Der eine kommt aus Tottenham, klar: Tottenham-Hotspur-Fan. Der andere stammt aus der West-Ham-United-Gegend Newham, outet sich allerdings als Liverpool-Fan. Es könnte ein lustig bierseliger Jungsabend werden. Aber der Treffpunkt liegt mitten in der Wüste, mitten im Krieg. Afghanistan in der Zeit, als Großbritannien die Führung der ISAF innehatte. Allerdings: Tagespolitik und eine grundsätzliche Auseinandersetzung darüber, warum europäische Soldaten für wessen Vorteil so fernab ihrer Landesgrenzen den Kopf hinhalten und ob das mit Kritik, Respekt oder Verehrung zu begleiten ist, will der junge britische Autor David „DC“ Moore überhaupt nicht moralisch verhandeln. Sein Stück „The Empire“ (uraufgeführt 2010 am Royal Court Theatre) erlebte jetzt zwar als „Afghanistan“ seine deutschsprachige Erstaufführung. Aber um Afghanistan geht es nicht. Es liegt nur eine emotionalisierte Situation vor.
Nach einem Terrorangriff der Taliban gegen ISAF-Soldaten wird ein Verletzter auf dem Schlachtfeld entdeckt, den Gary auszuhorchen hat. Er ist hellhäutiger Soldat der British Army und beschwert sich darüber, dass er einst in seiner Schulklasse mit zwei Kumpels allein unter Dunkelhäutigen war. Statt multikulti-romantischer Ideen schwelen in ihm rassistische Ressentiments. Sein Gegenüber heißt Zia, ein in Garys Nachbarschaft aufgewachsener, arabischstämmiger Muslim, dem multireligiös-romantische Ideen fremd sind. Er flüchtete aus England, um in Afghanistan Geschäfte oder Urlaub im „Unverfälschten“ zu machen. Seine Versionen widersprechen sich. Vielleicht wurde er auch entführt. Oder folgte er dem Dschihad-Ruf, um sich zu rächen für die verächtliche Behandlung durch die britische Klassengesellschaft, für das reflexhafte Beschuldigen und Ausgrenzen aller Muslime für den islamistischen Terror? Die Fragen nach Wahrheit, Lüge, Inszenierung der Aussagen, ob Zia Täter oder Opfer ist, lassen Moore und Regisseur Frank Behnke (Schauspielchef Theater Münster) unbeantwortet liegen, um weitab vom multi-ethnischen Brodelpott London an einem geradezu Godot-leeren Ort mal auflodern zu lassen, wie Vorurteile aus sozialer Ungleichheit entstehen, warum sie gepflegt, wie sie gelebt werden. Und wie die menschliche Natur idealen Nährboden dafür bietet. Begegnung mit unser aller Archaik: Wutpotenziale freisetzen, Ängste in Agressionen übersetzen, verzweifeltes Ringen mit der Unmenschlichkeit des Menschen, das schnelle Umkippen von Unverständnis in Hass: Krieg in Permanenz. Schon die Detonation von Gewalt in Moores Kürzestsätzen ist beeindruckend.
Nur aller Vorgesetzter, Simon, spricht etwas elaborierter: ein von Geburt an Privilegierter der britischen Oberschicht, der Kontrollverlust und Verwicklung in Gefühle fürchtet. So gut wie gar nicht spricht Hafizullah, Azubi der afghanischen Nationalarmee. Irgendwie nicht spannungsfördernd geheimnisumwittert hockt er da, sondern wie ein schläfrig knuddeliger Dauerkiffer aus einer Münsteraner Studenten-WG.
Trotzdem kommt es zu immer neuen Koalitionen und Feindschaften: Gary gegen Zia, beide gegen Hafizullah, die drei gegen Simon – und der gegen alle, inklusive sich selbst. Zias Analyse: „Dämliche Fotzen („cunts“), kommandiert von schnöseligen Fotzen, prügeln braune Fotzen. So läuft’s. Auch jetzt“. Aus den Londoner Vorort-Slang wurde Proll-Jargon und „Gangster-Singsang“ im „Ey, Alter“-Duktus. Das bringt viel Komödiantik in den detaillierten Realismus der Verhör-Dramatik. Das Darsteller-Quartett hat Behnke aus seiner erfolgreichen „Räuber“-Inszenierung mitgebracht, was durchaus anregende Assoziationen ermöglicht. Die Bühne selbst ist eine schlicht mit Sand ausgelegte Spielfläche – im neuen „U2“. Die Genehmigung dazu hatte Ulrich Peters (gerade vom Münchner Gärtnerplatz-Theater nach Westfalen gewechselt) gleich zu Beginn seiner Intendanz eingeholt, noch bevor er mit neuen Wegsparideen der Politik konfrontiert wurde. Jetzt konnte die ehemalige Probebühne 2 im 2. Untergeschoss (daher der Name) unter dem Kleinen Haus als 3. Spielstätte eröffnet werden. Mehr als 60 Stühle passen nicht rein, die Hitze ist Wüsten-würdig, die Atmosphäre ideal für intensive Kammerspiele wie „Afghanistan“. Auch für Lesungen, Kleinkunst, Konzerte, Soli der Ensemblemitglieder und das Junge Theater soll die Studiobühne genutzt werden. Auf dass sich viele Münsteraner im „U2“ treffen, um über Themen abseits von Preußen Münster ins Gespräch zu kommen.